Ab ins Heim?!

By Photo: Andreas Praefcke (Own work (own photograph)) [CC-BY-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/3.0)], via Wikimedia Commons

By Photo: Andreas Praefcke (Own work (own photograph)) [CC-BY-3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/3.0)], via Wikimedia Commons

Die Entscheidung, meine geistig behinderte Schwester in ein Heim „zu stecken“ als sie um die 20
 Jahre alt war, fiel meinen Eltern, die sich immer sehr um sie gekümmert
 haben,  mit Sicherheit sehr schwer. Die Abkapselung von zu Hause ist schon
 bei „normalen“ Kindern sehr schwierig, umso mehr Sorgen und Vorbehalte waren
 damals bei der Entscheidung in unserer Familie vorhanden. Besonders meine Mutter konnte sich mit
 diesem Weg zu Anfang absolut nicht anfreunden.

Im ersten Moment erschien diese Entscheidung nicht 
nur für Außenstehende sondern auch für mich sehr fragwürdig. Zu Hause war sie
 doch wohlbehütet, sicher und gut versorgt! Im Laufe der Jahre verstand ich aber
 immer besser, dass diese Entscheidung für alle Familienmitglieder der einzig 
richtige Weg war. In erster Linie, war es langfristig für meine Schwester nur 
von Vorteil ein „eigenes Leben“ führen zu können, ohne die überbesorgten 
Familie, die durch ihre „Bemutterung“ ihre Entwicklung letztendlich negativ
 beeinflusst hätte.

Die Möglichkeit sich zu sozialisieren, Konflikte mit anderen zu 
erleben und zu bewältigen, und insbesondere auch einen geregelten Tagesablauf 
mit Sinn und Inhalt zu haben, sind wichtige Grundbausteine für alle Menschen.

 Letztendlich stellt es aber auch für die Familie eine nicht unerhebliche Entlastung dar,
 insbesondere im Hinblick auf die Frage, was sein würde, wenn meine Schwester keine Eltern oder 
Bruder mehr hätte. Hier kommt dem Wohnheim und seinen Betreuern eine besondere 
Rolle zu. Sie sind eine Art Ersatzfamilie, wenn auch  nicht so perfekt wie die leibliche.
 Dies wird mir immer mehr bewusst, zumal meine Eltern langsam in das Alter
 kommen, wo sie selbst Hilfe benötigen. Würde meine Schwester in dieser Phase 
immer noch zu Hause leben, ohne weitere Sozialkontakte und eigenem Tagesablauf: 
es wäre für alle Beteiligten eine kaum zu bewältigende  Belastung.

 Das Behindertenwohnheim meiner Schwester ist sehr modern und die Betreuerinnen und Betreuer alle sehr nett
 und herzlich, was den Umstand, das meine Schwester in einem Heim lebt,
 wesentlich erleichtert.

Leider ist die Gruppenkonstellation der Bewohnerinnen und Bewohner
 sehr heterogen. Neben mehrfach Schwerstbehinderten gibt Beeinträchtigungen in allen erdenklichen
 Abstufungen bis hin zu meiner Schwester, die in ihrer Wohngruppe noch die fitteste 
ist.

Dies führt zwangsweise oft zu einer Unterforderung meiner Schwester. 
Meine Eltern und ich versuchen das durch regelmäßige gemeinsame Wochenenden oder kleinen
 Aktivitäten während der Woche (wie z.B. Sport, der deutlich zu kurz kommt) zu 
kompensieren.

Eine homogene Wohnheimgruppe wird es wohl auch in Zukunft kaum
 geben, da gerade bei geistigen Behinderungen keine Standards gelten. Doch auch wenn 
es einige Nachteile gibt und nicht alle optimal ist, letztendlich überwiegen die Vorteile. Ich möchte Angehörige von Menschen mit Behinderung dazu ermutigen, sich langfristig Gedanken über diese schwierige Entscheidung zu machen.

Amir und Hadia

Hadia & AmirIch heiße Amir, bin 45 Jahre alt und lebe in Köln, meiner Geburts- und 
Lieblingsstadt.

Meine Schwester Hadia ist 2 Jahre jünger und wohnt, bedingt durch
 ihre geistige Behinderung, in einem Behindertenwohnheim rund 20 Autominuten von 
mir entfernt.

Meiner Schwester merkt man ihre Behinderung kaum an. Sie ist 
motorisch vollkommen normal und wenn man mit ihr spricht, fällt es einem 
vielleicht im ersten Moment gar nicht auf, dass sie anders ist.  Man könnte denken, sie ist 
einfach ein wenig schüchtern. Dennoch befindet sie sich geistig etwa auf dem
 Entwicklungsstand eines Kindes.

Hadia arbeitet in einer 
Werkstatt für Behinderte. Das Wohnheim, in dem sie lebt, ist sehr modern und die Betreuerinnen und Betreuer alle sehr nett und herzlichLeider ist die Gruppenkonstellation der Bewohnerinnen und Bewohner sehr heterogen. Neben mehrfach Schwerstbehinderten gibt es alle erdenklichen Beeinträchtigungsgrade, bis hin zu meiner Schwester, die in ihrer Wohngruppe mit Abstand die Fitteste ist.  Dies führt zwangsweise oft zu einer Unterforderung meiner Schwester.  Meine Eltern und ich versuchen das durch regelmäßige gemeinsame Wochenenden oder zusätzlichen Aktivitäten während der Woche (wie z.B. Sport, der deutlich zu kurz kommt) zu kompensieren. 

Leben auf dem Mars entdeckt!

Copyright (c) 2014: ESA/DLR/FU Berlin (G. Neukum).

Copyright (c) 2014: ESA/DLR/FU Berlin (G. Neukum).

Ich bin 45 und meine geistig andersprogrammierte Schwester 2 Jahre jünger. Hab über Jahre (ups…schon fast Jahrzehnte) mit meinen Gedanken und Sorgen alleine vor mich hingelebt. Bruder einer geistig behinderten Schwester zu sein, bedeutet automatisch auch selbst anders zu sein: anders zu denken, anders zu fühlen und anders zu planen.

Aber neben der Situation, mit der Behinderung an sich konfrontiert zu sein, hat mich eine Sache im Laufe der Jahre immer mehr beschäftigt: meine eigene Position, verbunden mit meiner  Gedanken- und Gefühlswelt, einzustufen und zu bewerten: Ist das was ich als normal empfinde denn wirklich so normal? Stehe ich vielleicht selbst zu weit im Hintergrund und erkenne meine eigenen Bedürfnisse nicht oder gebe ich vielleicht nicht alles oder ist das nicht gut genug? Viele Fragen, die man nur beantworten kann, wenn man Menschen in ähnlichen Situationen kennt. Aber ich kannte kaum Leute in vergleichbaren Situationen oder in meiner Altersgruppe. Selbst im Behindertenwohnheim meiner Schwester, traf ich ausschließlich auf Eltern – die Geschwister waren ein unbekanntes Phantom.

Viele Jahre habe ich das Internet für jede Frage genutzt. Aber eine meiner wichtigsten Lebensfragen habe ich als unlösbar in mir getragen. Eines Abends – meine Stimmung war mal wieder nicht gerade zum Feiern – habe ich angefangenen, nach Gleichgesinnten zu suchen. Es kann doch nicht sein, dass ich der Einzige auf diesem Planeten in solch einer Situation bin. Schnell fand ich heraus, dass es zahlreiche und gut organisierte Anlaufstellen zum Thema Geschwister behinderter Kinder gibt. Selbst wissenschaftliche Untersuchungen und zahlreiche Veröffentlichungen stehen zur Verfügung. Leider waren diese aber ausschließlich auf Kinder und Jugendliche ausgerichtet.

In einem Forum entdeckte ich dann den Beitrag einer Frau, welche mir mit ihren Worten aus dem Herzen sprach. Auch sie suchte erwachsene Menschen in vergleichbaren Situationen. Es war ein Gefühl, wie Leben auf dem Mars zu entdecken. Wow, doch nicht allein auf dem Planet mit so ner Situation! Ich habe direkt eine Antwort auf den anonymen Beitrag hinterlassen. Auch wenn keine direkte Antwort kam, es war der Stein der die weitere Geschichte ins Rollen brachte….

Bildschirmfoto-Forenbeitrag-Doddi73

Ermutigt hierdurch, fand ich nach weiteren Recherchen endlich auch ein Angebot der Bildungs- und Erholungsstätte Langau e.V.. Hier gab es doch tatsächlich ein Seminar für erwachsene Geschwister behinderter Menschen. Auch wenn der Wunsch nach Austausch riesig war, ich hatte Angst auf vollkommen depressive Leute zu treffen, die sich in dem 3-tägigen Seminar nur gegenseitig ihr Leid vorjammern und mich letztendlich mit in eine Depression ziehen würden. Das brauchte ich echt nicht. Nach einem netten Telefonat mit der Seminarleiterin Sonja Richter, saß ich ein paar Tage später dann doch im Auto, auf dem Weg von Köln nach Langau in Bayern. Ich war zwar nach dem Telefonat motiviert aber nicht unbedingt überzeugt davon, dass mir das Seminar was bringen könnte. Um mich geistig auf das Bevorstehende einzustimmen, reiste ich schon ein Tag früher an. All meine Befürchtungen waren dann aber direkt beim ersten Kennenlernen der 5 anderen Teilnehmer/innen in Nullkommanix zerstört. Da waren auf einmal total normale Menschen in meiner Altersklasse, denen ebenso wie mir, nie jemand die besondere Lebenssituation angesehen hätte. Auch wenn wir bis tief in die Nacht hinein quatschen, lachten und grübelten, endlich hatte ich Menschen um mich herum, mit denen ich mich auch ohne Worte verstand. Ich musste nicht erklären wieso, weshalb und warum. Alle kannten die Situationen und Gefühle, welche wir als erwachsene Geschwister behinderter Menschen haben. Auch wenn das Seminar inhaltlich sehr interessant war, die Begegnung mit den anderen Teilnehmer/innen war für mich das Wichtigste. Einfach ein tolles Gefühl, welches ich nicht nur in 3 Tagen Seminar haben wollte.

Zwar blieb meine Resonanz auf den Beitrag der Unbekannten im Forum leider unbeantwortet, aber dafür meldete sich hierzu kurz nach meiner Rückkehr vom Seminar Sascha bei mir. Ein netter Typ in meinem Alter, in einer ähnlichen Situation und dann auch noch aus Köln wie ich. Wir brauchten nicht lange überlegen und saßen schneller bei einer Tasse Kaffee zusammen, als ich es noch vor ein paar Wochen für möglich gehalten hätte. Schnell war uns beiden klar, irgendwo da draußen rennen noch viele Gleichgesinnte rum, die sich bestimmt alle wie wir beide einfach über einen Austausch freuen würden. Die Idee der „Erwachsenen-Geschwister“ war geboren.