Unser Weg verlässt die kleine Ortschaft, in der wir mit unseren Geschwistern aufgewachsen sind. Durch eine Tannenschonung führt er uns in den herbstlich gefärbten Laubwald.
Du wartest nicht auf mich. Denn die Welt der Hörenden, aus der wir kommen und der du dich unterordnen musst, gilt hier nicht. Hier und jetzt nimmst du dir den Raum, den du in deiner Welt der Stille sonst nicht hast. Du eroberst den Weg auf deine Art: Je freier er ist, umso besser. Du breitest deine Arme wie Flügel aus, schwingst sie in großen Bögen oder wedelst mit den Händen. Die Augen himmelwärts gerichtet nimmst du die Details deiner Umgebung wahr. Du pustest deine Atemluft rhythmisch schnaufend hinaus und lächelst still vor dich hin. Du wiegst den Kopf hin und her und knirschst mit den Zähnen. Du wartest nicht auf mich, auch wenn du plötzlich auf der Stelle verharrst und für mich nicht lesbare Zeichen in die Luft malst. Du scheinst verschmolzen mit dir und dem Moment.
Wir geraten tiefer hinein in den bunt gefärbten Wald. Der blaue Himmel trägt dazu bei, meine letzten, aus dem Alltag mitgebrachten Gedanken zu verwischen. Die mächtigen Bäume senken uns ihre Äste im Wind wie ein Kopfnicken entgegen. Ich lausche dem Rauschen des Windes. Das Knacken von Ästen und das Rascheln des Laubes lenken meine Sinne auf die herbstlichen Klänge des Waldes. Eine Weile wandern wir weiter am Bach entlang zu dem vermoderten Teich.
Es fehlt uns nichts. Ich genieße die Ruhe und frage mich wieder, wie sich deine Stille wohl anfühlt.
ERHOLUNG – ENTSPANNUNG – GENUSS – ENTSCHLEUNIGUNG – SORGLOSIGKEIT
Jäh wird unser friedlicher Spaziergang gestört. Deine Bewegungen frieren für einen Moment ein.
Während ich schemenhaft in der Ferne ein kreuz und quer laufendes Knäuel wahrnehme, hast du es schon längst gespürt. Panikartig ergreifst du meine Hand, umfasst meinen Körper und wirbelst mich herum. Schutzsuchend klammerst du dich an mich. Obwohl du mich an Größe überragst, deine Kraft meiner weit überlegen ist, versteckst du dich hinter mir und gibst Laute des Unmuts von dir.
Ich erinnere mich: In meiner Kindheit wurdest du in Windeseile zu meinem Rucksack, wenn die Angst dich einen Zufluchtort suchen ließ. Und ich war stolz, dich beschützen zu können.
Ich bitte den Hundebesitzer laut rufend, seinen Hund anzuleinen, denn ich weiß, dass du dann keine Angst hast. Und wieder, wie schon so oft, wird meine Toleranz auf eine Zerreißprobe gestellt. Während dessen geht dein Brummen in vor Furcht quietschende Laute über.
„Der tut nichts, der ist ganz friedlich“. Der Satz breitet sich seit Jahrzehnten wie Donner in meinem Kopf aus. „Sie brauchen keine Angst zu haben, der beißt nicht“. Du reißt mich hin und her, deine und meine Unruhe werden immer größer, aber auch die des Vierbeiners. Am liebsten würde ich jetzt mit einer nachhaltigen Aktion deine und meine Not beenden. Aber auch wir tun nichts, wir sind friedlich und gehen nur spazieren.
Mein Kopf sagt mir, ich müsste nun um Verständnis für deine Angst werben und gleichzeitig dir die Angst nehmen. Wie oft war ich schon in dieser Situation? Wie oft habe ich gewünscht, dass es irgendwann aufhören müsse? Ich kann es nicht sagen. Gefühlt waren es hunderte Male. Jedes Mal gerate ich in Not, in die Not, dass es keine Erklärung geben kann, dass ich dir mit Worten nichts verdeutlichen kann, weil du nicht hören und nicht sprechen kannst, weil du anders denkst und in deiner eigenen Welt lebst. Meine Worte verhallen ungehört. Dass ich keine Idee mehr habe, wie ich in dieser Situation vermitteln kann, ermüdet mich.
Wie viele Um-Wege warten noch auf uns?
ANSPANNUNG – WUT – HERZRASEN – VERANTWORTUNG – EINSAMKEIT – STARK SEIN
Wie an manch anderen Tagen kommst du mit dem, was nicht planbar für dich ist, was dich überrascht, nicht klar. Und jetzt in diesem Moment, kann ich dich gut verstehen. Der gemeinsame gleichförmige Rhythmus unserer Schritte auf dem Waldweg ist unterbrochen, deiner genauso wie meiner.
Mein Kopf rotiert. Eigentlich will ich den Gedanken nicht zulassen, aber er drängt sich unweigerlich auf. So schnell es geht möchte ich ihn wieder los werden: Hätte ich nicht einen anderen Weg wählen können? Warum habe ich die drohende Situation nicht rechtzeitig bemerkt. Müsste ich die Gewöhnung an und die Begegnung mit Hunden mit dir noch einmal intensiv trainieren? Wie kann ich es schaffen, dir die Angst zu nehmen?
Ich möchte zurück zu dem, was vor dieser Begegnung meine Seele berührt hat.
SCHULDGEFÜHLE – FÜRSORGE – FRUSTRATION – GEDANKENCHAOS
Mein Blick geht in deine Richtung. Das Gefühl, dir Schutz geben zu müssen, ist fest in mir verankert, auch wenn du längst ein erwachsener Mann bist. Deine Hilflosigkeit zwingt mich, dich verteidigen zu müssen. Geht es dir gut? Wirst du dich beruhigen? Werde ich rechtzeitig bemerken, wenn wieder „Gefahr“ droht? Den Zuspruch, die Ermutigung, die du jetzt vielleicht brauchst, kann ich dir mit Worten nicht geben. Ich muss versuchen, deine Signale zu deuten und zu verstehen. Ich versuche ein angemessenes Maß von lassen und doch nicht lassen können für dein erwachsenes Leben zu finden. In meinem Handeln wird immer ein Rest von „Versuch und Irrtum“ bleiben.
Gleichzeitig wehre ich mich innerlich gegen die Vorstellung, nach dem abgelegenen, einsamen und gefahrlosen Weg für uns zu suchen. Deine Einsamkeit scheint mir aufgrund deiner eingeschränkten Fähigkeiten, auf unsere Weise zu kommunizieren schon groß genug. Und auch meine Einsamkeit soll nicht größer werden. MITTENDRIN sein wollen, das ist mein Wunsch für dich und mich.
AUSGRENZUNG – RÜCKSICHTSLOSIGKEIT – ÄRGER – VERSAGEN – ENTTÄUSCHUNG
Du läufst starr, deine raumgreifenden Bewegungen fehlen. Du gehst neben mir, nicht mehr weit voraus. Doch langsam vertraust du dich dem Weg wieder an. Du fährst mit deinen Händen an Baumstämmen entlang, streifst über das nasse Moos und greifst in das „weiche Kissen“ hinein. Mit einem Bündel Farn streifst du dir über die Hände. Du kürzt dir einen langen Ast zum Spazierstock und markierst damit jeden dicken Stein, so als wolltest du jetzt dein „Terrain“ abstecken.
Ich dagegen laufe mit innerer Unruhe, richte alle meine Sinne auf die Umgebung, drehe mich um, blicke nach hinten, zur Seite, nach vorne, schaue ob wir die Abzweigungen „gefahrlos“ queren können.
Die Tautropfen auf den Blättern und Stielen blinken mir wie Tränen entgegen; Tränen des Nicht-Verstehens, der Verzweiflung, der Ohnmacht, der Wut. Tränen, die ich schon geweint habe, wenn sich die Hilflosigkeit in mir ausbreitete, weil ich dir und mir nicht den Schutz bieten konnte, den wir gebraucht hätten. Weil ich dir nicht erklären konnte, wie die Welt tickt, die nicht deine Welt ist.
Als du klein und hübsch warst wurden deine Signale der Angst in Situationen wie diesen noch mit Zugewandtheit wahr genommen. Die Menschen sahen dir deine geistige Behinderung nicht an. Dein Hörgerät weckte Mitleid. Sie zeigten dir, wie du den Hund streicheln kannst. Das Tier musste „Platz“ machen. Die Verfolgungsjagd, die dein Weglaufen auslöste, und dein Quietschen wurden von dem kurzen Klicken der Hundeleine unterbrochen. Auch wir Geschwister durften über das weiche Fell streicheln. Danach ging unsere Familie weiter und wir stimmten Kinderlieder an: „Hänschen klein, ging allein, in die weite Welt hinein….“.
Es braucht eine Weile, bis dein Selbstvertrauen wieder da ist, bis auch ich wieder die Natur in mich aufnehmen kann und meinen inneren Frieden wieder finde. Ich brauche keinen Premiumweg und kein Mitleid, nur ein wenig Verständnis. Eine kleine Geste, ein kleiner Handgriff zur Leine, könnten eine große Barriere abbauen.
Dann können auch wir ohne „Leinenzwang“ durch den Wald gehen.
SEHNSUCHT – ENTSCHLOSSENHEIT – TATKRAFT – VERSÖHNUNG MIT DEN INNEREN STIMMEN
Morgen schon gehe ich wieder einen Weg mit dir und werde spüren wie deine Eigenheiten meine Sinne berühren.
ZUVERSICHT – VERTRAUEN – ACHTSAMKEIT