Große Schwester

Große Schwester Ich bin 32 Jahre alt und „große“ Schwester. Meine besondere Schwester kam dreieinhalb Jahre nach mir zur Welt. In der Schwangerschaft war sie nicht ausreichend versorgt worden. Mitbekommen hat das keiner bis sie in der 36. SSW viel zu klein zur Welt kam. Man merkt ihr die Behinderung kaum an. Sie konnte erst spät laufen und sprechen, ihre Intelligenz ist deutlich vermindert und sie hat starke Orientierungsprobleme. Aber sie lebt inzwischen in einer eigenen Wohnung, arbeitet in einer Behindertenwerkstatt, hat einen Partner und scheint ganz gut klarzukommen. Wir hatten auch einen älteren Bruder, der mit 17 Jahren verstarb.

Bloß nicht weinen, sei stark!
Ich erinnere mich kaum an meine Kindheit mit meiner Schwester. Meine Mutter hat mir immer voller Stolz erzählt, wie stolz sie auf mich war und was für eine große Hilfe ich ihr war. Das war lange Zeit meine Normalität. Inzwischen ist mir bewusst, wie jung ich selbst noch war und welche Überforderung das für mich gewesen sein muss. Ich erinnere mich an epileptische Anfälle und es begleitete mich lange Zeit ein dicker Kloß im Hals und der Gedanke „bloß nicht weinen, sei stark“. Ich erinnere mich an Wutanfälle meiner Mutter, wenn ich eigene Bedürfnisse äußerte. Und daran, wie ich einmal, als meine Mutter mir sehr belastet erschien, sagte, dass es vielleicht besser gewesen wäre, wenn meine Schwester nie geboren worden wäre. Ich wollte meiner Mutter damit mitteilen, dass ich sie verstehe. Meine Mutter hat leider sehr schockiert reagiert und mich angefaucht, dass ich so etwas niemals wieder denken darf. Meine Scham war riesig, fast vernichtend.

Mit 22 begann ich ein Studium. Als meine Mutter zwei Jahre später schwer erkrankte, brach ich es ab, um ihr beizustehen. Das Verrückte ist, dass ich mich selbst bis vor kurzem für wahnsinnig egoistisch und faul hielt. Vielleicht hat gerade diese Annahme mich dazu getrieben, mich für andere Menschen aufzuopfern und „bedürfnislos“ zu werden.

Tiefe Trauer und grenzenlose Wut
Erst die Geburt meines Sohnes hat mich wieder zum Vorschein gebracht und plötzlich war da eine tiefe Trauer, die sich Zeitweise hinter einer grenzenlosen Wut verbarg. Inzwischen gehe ich immer häufiger meinen eigenen Weg und lerne mich und meine Bedürfnisse zu respektieren. Aber im Zusammenhang mit meiner Schwester löst das immer noch starke Schuldgefühle aus. Gerade als meine Mutter krank war, fühlte ich mich für meine Schwester verantwortlich und bekam dafür viel Lob.

Verharren in der Opferrolle
Als meine Mutter vor zwei Jahren starb und ich selbst am absoluten Tiefpunkt angekommen war, wollte ich diese Verantwortung nicht mehr. Das hat nicht jeder verstanden und es gibt immer wieder Menschen, die mich bitten, mich um meine Schwester zu kümmern. Im Moment will ich das auf keinen Fall, und ich weiß nicht, ob ich das überhaupt irgendwann jemals wieder machen will. Meine Schwester ist durchaus selbst in der Lage für sich zu sorgen und könnte unsere Schwesternbeziehung auch mit“pflegen“. Von ihr selbst kommt da aber relativ wenig. Ich habe den Eindruck, dass sie einfach nicht aus ihrer Opferrolle herauskommt. Ihr Selbstbild ist anscheinend genauso verzerrt, wie meines.

Selbstbestimmt leben
Mir ist meine Selbstbestimmung wahnsinnig wichtig und ich habe oft Angst, von anderen ausgenutzt oder beherrscht zu werden. Das führt gerade im Berufsleben immer mal wieder zu Problemen. Aber ich bin auch eine gute Beobachterin mit feinen Antennen für die Stimmungslage anderer Menschen. Oft jedoch verfange ich mich regelrecht darin und werde handlungsunfähig. Zurzeit versuche ich, diese Tatsachen anzuerkennen, zu lernen besser damit umzugehen und dann hoffentlich irgendwann aus meiner Schwäche eine Stärke zu machen. Ich bin ein sehr wissbegieriger, lernfähiger und reflektierter Mensch, der nie aufgibt und ich glaube fest daran, dass ich es schaffe MEIN Leben zu führen und das selbstbestimmt.