Kanarienvogel

von Cédric Courbois (http://www.apdcanari.com/) [Public domain], via Wikimedia Commons

von Cédric Courbois (http://www.apdcanari.com/) [Public domain], via Wikimedia Commons

Mein Bruder Wolfgang ist Spastiker. Seine Schulzeit verbrachte er in einem Internat für körper- und mehrfachbehinderte Kinder und Jugendliche. An den Wochenenden kam er nach Hause. Das bedeutete für uns, jeden Sonntagabend eine Stunde Autofahrt zum Internat und wieder eine Stunde zurück. Jeder Sonntag war überschattet von diesem „Termin“, von Wolfgang´s Unwohlsein – weil er nicht ins Internat  wollte – und von dem schlechtem Gewissen meiner Mutter, der es unendlich schwerfiel, ihn dort hinzugeben. Es wurde meinen Eltern geraten, Wolfgang in diese Einrichtung zu geben, um seine Entwicklung und Selbständigkeit zu fördern. Ich kann mich noch sehr gut an das Internat erinnern, in dem es komisch roch und ungemütlich war. Und an den Käfig mit dem gelben Kanarienvogel darin, in seinem Zimmer. Ein verzweifelter Versuch meiner Eltern, es ihm so angenehm wie möglich zu gestalten. Dann die Abschiede! Ich sehe meinen Bruder noch heute in seinem Rollstuhl im Hof des Internats sitzen, wie er uns zum Abschied winkt, als wir davonfahren. Wie er traurig schaut, wie es meine Mutter schmerzt. Zwar sagt sie kein Wort, doch um sie herum sind diese unsichtbare Schwere, Traurigkeit und Schuld, die zu mir herüberfließen…

Bei uns daheim drehte sich die meiste Zeit alles um meinen Bruder: um seine OPs, um seinen Internat-Aufenthalt, um Physiotherapeutentermine, seine Förder- und Entwicklungsmöglichkeiten. Ich war ein sehr fröhliches Kind und ich liebte meinen Bruder. Und ich liebte es, ihn im Rolli herumzuschieben und war manchmal sogar fast ein bisschen Stolz, weil wir eben anders waren, als alle anderen. Als mein Bruder dann im Internat war, war ich unter der Woche „Einzelkind“ und es wäre für mich die Chance gewesen, auch endlich einmal  in den „Vordergrund“ zu treten. Doch leider waren meine Eltern so sehr mit ihren eigenen Themen beschäftigt, dass mir die Rolle des stillen Funktionierens und dann noch  – ganz subtil und nebenbei  –  die der zukünftigen Betreuerin (wenn meine Eltern einmal gestorben sind)  – zufiel. Aus tiefster Liebe und Solidarität zu meinen Eltern, wollte ich das Schicksal meiner Eltern mittragen.

Susanne und Wolfgang

Susanne und WolfgangHeute bin ich, Susanne (Doddi73), 40 Jahre alt. Wolfgang ist Spastiker und auch geistig etwas beeinträchtigt. Objektiv gesehen ist seine geistige Behinderung nicht so schlimm. Es dauert eine Weile, bis man seine geistigen Defizite bemerkt. Innerhalb unseres Familiensystems ist die geistige Behinderung  jedoch sehr belastend. Wolfgang lebt alleine in einer kleinen Wohnung in der Nähe meiner Eltern. Vor allem meine Mutter kümmert sich im Hintergrund sehr und ist emotional stark mit ihm verbunden, sprich: kann ihn nicht loslassen. Meine Eltern gehen sehr ambivalent mit der Situation um: einerseits ermöglichen sie ihm ein scheinbar selbständiges Leben, andererseits behandeln sie ihn wie ein Riesenbaby.

Meine mir auferlegte Rolle, mich später einmal um meinen Bruder zu kümmern, rückt unaufhaltsam näher! Und mit ihr Angst und Panik! Will ich diese Verantwortung? Kann ich sie tragen? Wo sind meine Grenzen? Ich war so verstrickt in diesem zermürbenden Familiengeflecht, bestehend aus Tabus und Erwartungen. Das hat mich richtig krank gemacht.

Nun habe ich mich nun auf den Weg gemacht, mich von meiner Familie emotional etwas abzunabeln, um hoffentlich irgendwann einmal zu erkennen, was ICH wirklich will und welche Kompromisse für mich in Ordnung sind. Es ist ein langer, steiler Weg, auch habe ich schon einige, sinnlose Therapien hinter mir. Aber jetzt fühlt es sich gut an! Diese fiesen, schlaflosen Nächte habe ich trotzdem noch manchmal. Da kommen urplötzlich diese Ängste. Wie Dämonen zermartern sie mein Hirn. Ich möchte nicht wissen, wie es erst wird, wenn meine Eltern wirklich einmal pflegebedürftig oder gestorben sind? Und/oder der körperliche Zustand meines Bruders immer schlechter wird?

Es ist ein anstrengender, steiler Weg. Mut macht mir, dass mein Bruder auch ein „Lehrer“ für mich ist, dass er mir jeden Tag vor Augen hält, worauf es im Leben ankommt. Mut machen mir auch mein Mann und meine Kinder, die mich immer sehr tatkräftig und mitfühlend unterstützen.

Und Mut macht mir auch, Sascha und Amir gefunden zu haben und hoffentlich hier noch eine ganze Menge mehr Menschen zum Austausch.