In meiner Kindheit war mein absolutes Lieblingsbuch die Kinder von Bullerbü. Lisa, Lasse, Bosse, Britta, Inga, Ole und Klein-Kerstin, die bei ihren Eltern auf drei Höfen, dem Mittel-, Nord- und Südhof zusammen aufwachsen. Verschlungen habe ich das Buch (eigentlich ist es ja eine Bücherreihe) und dabei eine unglaubliche Wärme und Geborgenheit gespürt. Wie gerne wäre ich Teil dieser Kinder aus Bullerbü gewesen. In dieser geborgenen Gemeinschaft aufzuwachsen und nicht alleine.
Niemand hat diese Einsamkeit gesehen
Ich war allein, obwohl ich nicht allein war. Genau das war das Schwerste, dass niemand diese Einsamkeit gesehen hat, obwohl sie so sehr da war.
In Bullerbü war einer dem anderen nicht egal. Ich war meiner Familie auch nicht egal. Andere Menschen haben einfach nur lauter nach Aufmerksamkeit geschrien als ich.
Dann war da diese große Dankbarkeit in mir, wenn ich gesehen wurde. Meine Tante. Meine liebe Tante. Hat mich zusammen mit ihren Kindern mitgenommen zu Abenteuern, die ich mit meinen Eltern nicht erlebt habe. Sie hat mich an diesen Tagen zu einem Teil ihrer Kindern gemacht. Wir waren im Schwimmbad und sogar im Freizeitpark. Dort gab es eine Wasserbahn, bei der man nass wurde. Was ein Spaß!
Warum haben meine Eltern nie so etwas mit uns erlebt? War es fehlendes Geld? Fehlendes Interesse? Andere Prioritäten? Fehlendes Geld kann ich nicht glauben. Für anderes war Geld da. Alleine das Geld, das Papa in seiner Stammkneipe und für Zigaretten ausgegeben hat. Wie schwer es fällt, das so zu schreiben.
„Behinderte dürfen hier nicht mitfahren“
Vor ein paar Jahren war meine Mutter mit meiner primär geistig behinderten Schwester im Freizeitpark. Ein schroffer Mitarbeiter ließ meine Schwester nicht auf eine, auf meine Mutter harmlos wirkende, Achterbahn. Rief laut „Behinderte dürfen hier nicht mitfahren!!!“. Was er wohl meinte war, dass Menschen mit Behinderung aufgrund physischer Risiken das Fahrgeschäft nicht nutzen dürfen. War das der Grund, warum wir nie im Freizeitpark waren? Das fehlende Selbstbewusstsein meiner Eltern in solchen Situationen? Keine Kraft für die Blicke und Reaktionen anderer Menschen?
Ich war nicht dabei, mit meiner Mutter und Schwester im Freizeitpark. Ich plane auch nicht mit ihnen heute in einen Freizeitpark zu gehen. Das nachzuholen. Ich möchte Zeit mit meiner eigenen Familie verbringen. Mit meinen Kindern in den Freizeitpark gehen. Ironischerweise, war ich tatsächlich noch nie mit meinen Kindern im Freizeitpark. Das muss ich unbedingt tun. Wer weiß, wie lange mir noch unbeschwerte Zeit mit meinen Kindern und meinem Mann bleibt, bis ich die Verantwortung für meine Schwester übernehme. 10 Jahre? 20 Jahre, wenn es sehr gut läuft?
Kann ich das leisten?
Wird meine Schwester dann in Ihrer Wohnung bleiben können? Wird sie zu mir ziehen? Werde ich bei dieser Entscheidung die Interessen meiner Schwester oder meine Interessen in den Mittelpunkt stellen? Lasse ich meine Schwester in ihrer gewohnten Umgebung in der betreuten Wohnung und nehme dafür selbst einige hundert Kilometer Autofahrt am Wochenende in Kauf? Kann ich das leisten, ohne meine Kinder hinten an zu stellen? Oder werde ich es mir „bequem“ machen und suche meiner Schwester eine neue betreute Wohnung in meiner Umgebung? Lasse ich sie gar in unser Gästezimmer ziehen? Bin ich mir der Tragweite dieser Entscheidung bewusst?
Diese Entscheidung wiegt schwer wie Blei, denn sie fühlt sich irreversibel an. Breche ich die bisherigen Zelte meiner Schwester ab, sind sie doch in ihrer bisherigen Umgebung nicht mehr aufzurichten. Ihr Zimmer wird weitervergeben, die Warteliste lang.
Welche anderen Möglichkeiten habe ich? Kann ich einer fremden Person die Betreuung meiner Schwester übergeben? Kann ich loslassen? Unterschätze ich meinen Bruder und er wird sich kümmern? Er hat das doch schließlich studiert. Ich muss mit ihm darüber sprechen. Ich will jetzt nicht mit ihm darüber sprechen. Jetzt nicht. Will es ausblenden, verdrängen.
So viele Fragezeichen
So viele Fragezeichen. Muss ich jetzt damit anfangen die Fragen zu beantworten? Ich will nicht. Will mein eigenes Leben erst leben und die Sorgen in die Ecke stellen. Sie dürfen ins Rampenlicht treten, wenn es soweit ist. Erst dann. Ist das egoistisch? Verantwortungslos? Faul?
Zumindest verantwortungslos ist es nicht. Das Wichtigste ist geregelt. Meine Schwester lebt jetzt schon in weiten Teilen unabhängig von meiner Mutter (dafür bin ich dir sehr dankbar, Mama!).
Ich kümmere mich, wenn es an der Zeit ist. Ehrenwort! Aber erst dann!
von ♥en wünsche ich dir, dass du antwort auf deine fragen findest – vielleicht in gesprächen mit anderen geschwistern?
wie gut, dass deine schwester bereits in weiten teilen unabhängig von eurer mutter lebt!
und -für mich- noch besser: deine klarheit, dich erst dann zu kümmern, wenn es an der zeit ist!
alles liebe und gute dir und euch ….
Vielen Dank, Ines, für Deine lieben Worte!
gern doch, liebe lene! hoffe, sie helfen ein mini-mini-mini-bisschen weiter ;-)!
und: danke für deinen beitrag….
…das sehe ich genauso. Erst mal unabhängig und dann alles zu seiner Zeit.
Dankeschön für die Bestärkung!
Auch mich berührte dein Text so sehr!
Danke für das Teilen deiner innersten Gedanken und ganz viel Zeit noch, bevor eine Entscheidung nötig sein wird!
Alles Gute für dich und deine Familie!
Vielen lieben Dank!
Hi Lene,
auch ich erkenne soo viel wieder in Deiner Anti-Bullerbü- Kindheit….
Aber ich sehe auch Deine Stärke darin, Dir das Recht auf ein eigenes „Jetzt“ nehmen zu wollen und das Damoklesschwert des „was tue ich, wenn“ auf dann zu vertagen, wenn es möglicherweise ein „Jetzt“ sein wird….!!!!
Ich wünsche Dir sehr, dass Du da eine noch klarere „Ich darf das“- Entscheidung treffen kannst, die Dich entstresst …denn ich weiß aus eigener Erfahrung, welche weitreichenden Folgen dieser Verantwortungsstress bis in jede Körperzelle hat, wenn Du Dir diesen freien Raum nicht rechtzeitig zu nehmen traust….
Liebe Grüße
Ursula
Vielen Dank für die lieben Worte! Es tut gut, verstanden zu werden 🙂
Liebe Lena, deine Worte berühren mich sehr und so ähnlich sieht mein Leben auch aus. Bullerbü mochte ich auch sehr und alle Jugendbücher übers Internat Leben. Dorthin wünschte ich mich öfters mal. Ich hatte zum Glück eine Tante und einen Onkel die mir ein anderes Leben, ein Familienleben, zeigten. Mein Bedürfnis nach einem Familienleben, wie in Bullerbü, ist derzeit groß und wie es mit meiner Schwester weitergeht, steht gerade in den Sternen. Ich bin froh, einen herzlichen Freundeskreis um mich herum zu haben und Unterstützung der Geschwistergruppe. Die hat ein Kollege und ich vor ca. 7 Jahren gegründet.
Liebe Anita, das freut mich sehr zu lesen, dass Du dich in meinem Text wiederkennst. Gut, dass Du auch Tante und Onkel hattest, die sich Dir angenommen haben, und jetzt auch die Geschwistergruppe! Alles Gute Dir!
Liebe Lena, Bullerbü sprach mich sofort an, Deinen Text zu lesen. Sehr ehrlich und berührend. Für mich stand und steht mein Bruder immer an erster Stelle sogar vor mir. Das hat mich überfordert. Jetzt versuche ich es anzunehmen, dass er im Betreuten Wohnen lebt, was jetzt im Alter mit ihm passiert, weiß ich noch nicht, aber ich muss zuerst bei mir und meiner Familie bleiben. Er wird versorgt und ich bin immer für ihn da. Ich muss Vertrauen haben, in mich, in alle. Schritt für Schritt entscheiden.
Ich schließe mich da Ursula`s Worten an. Liebe Grüße.
Liebe Liselotte,
die Überforderung kann ich sehr gut nachvollziehen! Gut, dass du auch an dich und deine Familie denkst, dass ist auch wichtig, damit du dir deine Kräfte einteilen kannst. Ganz liebe Grüße und Alles Gute!
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