Mein Bruder und ich sind eng miteinander aufgewachsen. Wir haben uns geärgert, miteinander gespielt und uns viele Dinge anvertraut und tun das auch immer noch. Dass er dabei etwas anders ist, als andere Menschen, habe ich eigentlich nie großartig in Frage gestellt. Er ist genauso bockig, faul und anhimmelnd, wie jeder andere kleine Bruder auch. Natürlich wäre man gerne mal zelten gegangen oder hätte ein Baumhaus gebaut – das stellt sich mit Rollstuhl tatsächlich als etwas schwierig heraus – aber dafür habe ich viele andere Dinge mitbekommen, die „normale“ Menschen nicht sehen.
Barrierefreiheit ist im 21. Jahrhundert immer noch ein Fremdwort
Ich erlebe die Welt durch ein anderes Augenpaar – ein tiefer sitzendes, um genau zu sein. Und da wäre ich schon bei meinem ersten Punkt, den ich nennen möchte: der Gesellschaft. Dass ich im 21. Jahrhundert immer noch nicht in jedes Kino gehen oder in jede Bahn steigen kann, wenn ich mit meinem Bruder unterwegs bin, ist mir ein Rätsel. Wir führen Kriege mit hochentwickelten Waffen, manipulieren Gene, fliegen in 12 Stunden um die halbe Welt – aber Barrierefreiheit ist trotzdem noch ein Fremdwort. Nur ein kleiner Einblick in die neuesten Herausforderungen: Geht Marius‘ Rollstuhl kaputt, muss er zu Hause bleiben, bis die bürokratischen Abwicklungen mit der Krankenkasse erledigt sind. Da frage ich mich manchmal, ob wir uns tatsächlich als weit entwickeltes Land bezeichnen sollten, wenn wirkliche Inklusion noch so weit entfernt scheint.
Behinderung wird nur zur Belastung, wenn sich die Umwelt nicht anpasst oder es wenigstens versucht. Damit meine ich auch andere Menschen. Die neueste Anpassungsidee ist laut der Medizin, viele Föten mit Einschränkungen nicht zur Welt zu bringen oder mit Hilfe der Präimplantationsdiagnostik (PID) direkt zu selektieren, damit „sowas“ gar nicht erst passiert. Dabei kann ich mir eine Welt ohne Menschen mit Schwächen gar nicht vorstellen. Lernt man nicht erst von ihnen, wie man selber ist oder wer man sein kann?
Anderssein ist schön!
Ich für mich kann das nur unterstreichen. Ohne Marius wäre ich nicht so sensibilisiert, hilfsbereit, aufmerksam und sozial geschult, wie ich es jetzt bin. Natürlich kann man auch von mehr Verantwortung und weniger Aufmerksamkeit als Geschwisterkind sprechen und das möchte ich auch gar nicht abtun. Doch letzten Endes gewinnen wir mehr Erkenntnisse und Einblicke in andere Welten. Eigentlich bilden uns Menschen mit Behinderungen doch dazu aus, andere Niveaus und Hürden wahrzunehmen und diese zu erklimmen. Ich möchte alle Betroffenen dazu ermutigen, durchzuhalten und ihrem Umfeld zu vermitteln, wie schön es ist, anders zu sein und dass auch diese Leben es wert sind, erkämpft und gelebt zu werden. Auch Leid, Sorge und Hilfsbedürftigkeit sollten in unserer leistungsorientierten Welt einen Platz finden.
Liebe Nora,
ich bin auch ein Geschwisterkind. Mein Bruder sitzt zwar nicht im Rollstuhl, jedoch muss ich dir recht geben, das eine Barrierefreiheit in Deutschland, sowie in der Schweiz eigentlich gar nicht vorhanden ist.
Für mich sind, wie für dich, Menschen mit Behinderung eine Bereicherung. Sie geben soviel, ich habe durch mein Bruder, aber auch andere Menschen mit Beeinträchtigungen, sehr viel gelernt, wurde sensibilisiert.
Ich finde dein Bericht super. Es sollte mehr solche Menschen geben, die mit so offene Augen durch die Welt gehen.
Liebe Grüsse Sabrina
Hallo Sabrina, vielen Dank für deinen Kommentar und die Unterstützung 🙂
gefällt mir, liebe nora, wie du das „anderssein“ aus verschiedenen blickwinkeln betrachtest bzw. das, was es mit dir als schwester „gemacht“ hat. ich glaube, als ich in deinem alter war, war ich noch nicht so weit ;-)!
liebe grüße von ines
Danke Ines! Da können wir uns gegenseitig helfen. Liebe Grüße zurück