Allzeit bereit sein….

(c) Ursula Siemers

Das Licht im Flur blieb nachts immer an – um schnell rüberlaufen zu können, schnell wach zu sein – aufpassen!

Mein „kranker“ Bruder, der eigentlich schlicht schwerstbehindert und Epileptiker war und ist und nicht „krank“ – aber das nannten sie damals nicht so – bekam nämlich nachts manchmal „Anfälle“, die Angst machten und bei denen man sofort zur Stelle sein musste, damit er nicht erstickte. So wurde es mir gesagt – damals, mit einer gehörigen Portion Panik vermischt, schwappten diese Ängste in mich hinein, machten mich verantwortlich dafür, dass meine Mutter geweckt wurde, um die „Anfälle“ begleiten zu können.

Ich war 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11 Jahre alt – danach bekam ich endlich mein eigenes Zimmer – ein ganzes Stockwerk abgetrennt vom Rest der Familie – befreiend!

Doch bevor es soweit war, sollte ich achtgeben, wurde verantwortlich gemacht dafür, dass diese stillen Anfälle auch bemerkt würden. Und das war auch das Problem – sie waren still, nicht laut. Und meistens nachts – irgendwann- . So lernte ich, das Unhörbare zu hören, lernte zu lauschen auf Sachen, die kaum erlauschbar waren, lernte, auch im Tiefschlaf noch an irgendeiner Stelle, die durch Angst aktiviert war, wach zu sein….

Natürlich lernte ich das nicht einfach so auf einmal, nein, ich lernte durch „Versagen“ und darauf folgende Vorwürfe seitens der Mutter.

Manchmal machte es mich innerlich extrem wütend, dass mir diese Bürde aufgezwungen wurde, doch dann sah ich die müde sorgenden Augen meiner Mutter, sah die Schwäche meines Bruders nach einem solchen Anfall und fand deren Leiden schlimmer als das meine. „Liebe Deinen Nächsten“ , so wurde es sonntags gepredigt und ich versuchte es , versuchte es wirklich…. Manchmal zögerte ich mit schlechtem Gewissen mein Aufstehen aber auch hinaus – in der Hoffnung, meine Mutter würde es schon selbst bemerken und aus ihrem Schlafzimmer kommen. Und ich erinnere mich, dass ich mir manchmal sogar wünschte, es würde endlich passieren, er würde einfach tot sein, weg sein. Für diese Gedanken kasteite ich mich natürlich dann wochenlang, indem ich noch viel aufmerksamer lauschte.

 

Foto von Ursula und ihrem Bruder

(c) Ursula Siemers

Ich bin grad durch einen Bericht auf DLF-Kultur auf Diesen Blog gestoßen und hätte Lust, dort auch mal die eine oder andere Geschichte als Geschwister“kind“ zu posten (ich bin 67 und mein schwerstbehinderter Bruder ist ein Jahr älter).

 

 

 

 

19 thoughts on “Allzeit bereit sein….

  1. Liebe Ursula,

    sooo viel Aufmerksamkeit für ein Geschwister aufzubringen – welche Verantwortung für so ein kleines Mädchen. Hut ab. Heute ist dir sicher klar, dass so Gedanken wie „er möge einfach weg/tot sein“, nachvollziehbar, natürlich, „normal“ sind und auch sein dürfen bzw. durften. Damals hast du dich dafür geschämt. Ich wünsche dir, dass du heute gut zurechtkommst und dir bewusst ist, was du damals zur Entlastung deiner Mutter fast Übermenschliches geleistet hast.
    Herzliche Grüße von Ines

    • Liebe Ines,
      erst einmal danke für Deinen einfühlsamen Kommentar:-)
      Oh ja, im Kopf ist mir das seit langem klar, aber irgendwie „musste“ ich hier gestern diesen Text reinstellen, weil ich gerade endlich die Behördensorge und die Finanzsorge für meinen Bruder abgegeben habe und mich extrem schlecht fühlte seitdem, weil diese alten Verpflichtungsgefühle immer noch im Zell-Untergrund dräuen , auch wenn meinem Kopf klar ist, dass ich das für mich tun darf und muss*s*
      LG Ursula

      • Hallo Ursula und all ihr anderen,

        ich finde es toll, dass du es geschafft hast, Teile der Betreuung zu delegieren. Ich selbst bin noch dabei, hoffe immer wieder, dass es weniger / besser wird. Meine Eltern sind dagegen, dass ich einen Betreuer von aussen einschalte. Sie meinen, das kann ich besser, da ich ein soziales Studium habe.

        • Hi Angie,
          liebst Du es, Papiere zu ordnen, Anträge bei Behörden zu stellen und Vermögenssachen als Listen zu erstellen?…Wenn ja, mach es*s*….
          Ich hab ca 30 Jahre lang die komplette Amts-Betreuung meines Bruders gemacht obwohl mich jeder bürokratische Akt verrückt macht und seit dem letzten Jahr wurden ja auch noch die ganzen Lebensunterhaltssachen auf die Ehrenamtlichen abgewälzt – also nicht nur die Rechenschaftssachen beim Amtsgericht etc. sondern auch Grundsicherungsanträge, Wohngeld und und und….
          Für mich blieb da fast keine Energie für die eigentliche Für-Sorge, also für das tatsächlich „Soziale“ für meinen Bruder übrig, weil der Bürokratiekram immer wie eine fette schwarze Wolke über mir hing…Du DARFST das so entscheiden, wie es FÜR DICH annehmbar ist, lass Dich nicht einfach – wie ich- von Deinen Eltern instrumentalisieren*s*
          LG Ursula

      • liebe ursula,

        jetzt erst sehe ich deinen kommentar vom 18. august, sorry!

        es ist meines erachtens gut und richtig, dass du den finanz- & behördenkram abgegeben hast …. hast du dich gut reinfinden können inzwischen?
        ich finde, sowas kann ein berufsbetreuer sehr gut machen, damit „müssen“ wir geschwister uns nicht rumschlagen. bin gerade wieder an einer rechnungslegung sowie einer steuererklärung (!) fast verzweifelt.

        es reicht AB-SO-LUT, wenn wir geschwister uns um die sozialen Bereiche kümmern, finde ich. und zwar ganz ohne schlechtes gewissen, ja!

        alles liebe und gute!

  2. Oh my goodness, wie prägend das alles. Schön, dass du eine gewisse Distanz gewonnen hast. Diese Balance zwischen vermeintlichem Egoismus und Aufopferung ist immer wieder ein großes Thema…

  3. jepp, Christian, wenn ich mich mal wieder- wie es mir eingebläut wurde als Kind, automatisch verdächtige, ganz böse „egoistisch“ zu sein, setze ich stattdessen das Wort „Selbstfürsorge“ ein und erinnere mich an den – in meiner Kindheit immer verschluckten Nachsatz des „Liebe Deinen Nächsten- Gebotes“- der ja heißt „wie Dich selbst“ – das rückt dann meist etwas wieder gerade*s*…

  4. Liebe Ursula,
    dein Artikel hat mich sehr berührt, ich kenne das, hab auch einen schwerstbehinderten Bruder und eine
    Mutter, die bis zum heutigen Tag nur ein Kind und eine Sorge hat und das seit 50 Jahren. Klingt sarkastisch, aber wer es lebt, versteht es! Wünsche Dir viel Liebe und Kraft für dich selbst, ohne schlechtes Gewissen.

  5. Liebe Sibylle,

    danke für Deine Zeilen, irgendwie hatte ich immer das Gefühl, es ginge nur mir so, bin sehr dankbar für diese Seite hier…
    Und ja, Du hast das, was da (immer mal wieder- auch wenn wir längst erwachsen sind*s*) verarbeitet werden muss, auf den Punkt gebracht:-))
    Aus dem Mit-Leiden endlich Mit-Gefühl für uns selbst und die anderen machen;-)
    LG Ursula

  6. Liebe Ursula, wenn die ‚bürokratische Sorge’für deinen Bruder so belastend ist, dass die persönliche viel anstrengender wird,ist es doch besonders verantwortungsvoll, den bürokratischen Teil abzugeben. Du nimmst deinem Bruder so nichts weg, im Gegenteil. Ich weiss aus eigener Erfahrung, dass man meint alles leisten zu müssen. Trotzdem müssten wir in auch um uns selbst sorgen. Das fällt zwar schon beim Schreiben schwer, erst recht beim Umsetzen. Ich wünsche uns viel Erfolg dabei.

  7. Hallo Silke, Ursula und Sybille,

    auch ich habe einen schwer behinderten Bruder und eine Mutter, die nur ein Kind und v. a. eine Sorge hat. Da ich das dritte Kind in der Familie bin, blieb für mich absolut gar nichts mehr übrig. Im aktuellen Fall konnte ich für meinen Bruder nichts tun, weil ich einfach nicht über das Problem informiert war und fühle mich trotzdem unendlich schlecht ihm gegenüber, weil ich nichts getan habe.
    Ohne schlechtes Gewissen und mich schlecht zu fühlen, das klappt bei mir gar nicht. Nicht einmal, wenn es nicht möglich war.
    Aber ich gebe euch recht, wir müssen auch an uns selbst denken. Man kann nur sinnvoll etwas für andere tun, wenn es einem auch selber gut geht. das muss an erster Stelle stehen.

  8. Hallo, ich bin völlig überrascht, dass es diese Seite gibt und ich sie gefunden habe….seit 52 Jahren bin ich die Nummer 2, obwohl ich 9 Jahre die Nummer 1 war. Es erstaunt mich, dass es anderen genauso geht wie mir. Sicher habe ich mich gefragt, wo all die anderen Geschwister der behinderten Menschen sind, damals, als meine Schwester noch in die Werkstätten der Lebenshilfe ging. Heute ist sie in einem Wohnheim, doch der Umgang mit meiner Mutter gestaltet sich zunehmend schwieriger für mich. Wie erleben das andere erwachsene Geschwister?

  9. Hallo zusammen, ich bin sehr froh diese Seite gefunden zuhaben. Ich bin 58 Jahre alt und habe eine Schwester mit geistiger Behinderung und Epilepsie. Ab meinem 4. Lebensjahr habe ich das Gefühl erwachsen und vernünftig zu sein. Allein und einsam-beim Erleben der heftigen Anfälle meiner Schwester, vernünftig-nicht mit ihr zu streiten,in den Ferien auf sie aufzupassen ….und jetzt seit 2006 gesetzl. Betreuerin in allen Bereichen, oft nicht frei in der Entscheidung, weil meine Mutter immer noch sehr präsent ist.Es ist keine leichte Aufgabe, die mich jetzt als berufstätige Oma wieder intensiv einholt, weil die Eltern nicht mehr so können und der medizinische Aufwand auch bei meiner Schwester größer wird. Ja ich kann Euch alle gut verstehen:die große Liebe, die Wut wegen der Überforderung und das folgende schlechte Gewissen.Schön nun Menschen gefunden zu haben, die ihre Erlebnisse teilen.

  10. Guten Abend, es würde mich unglaublich interessieren, welche Anfälle Dein Bruder genau hatte. Wir haben nämlich quasi die gleiche Situation.

  11. Hi Grace,
    Mein Bruder hatte immer zyklisch epileptische Anfälle, die sein Herz sehr stark belastet haben. Es bekam zwar viele Jahre lang immer wieder ein Medikament dagegen verschrieben, was aber letztlich nichts geholfen hat…der Neurologe hatte sich anscheinend auch nie weitergebildet und verschrieb jahrzehntelang immer dasselbe Mittel …bis wir irgendwann eine neue Neurologin aufsuchten, die nach gründlicher Untersuchung dann ein neues/anderes Mittel verschrieb. Seitdem hatte mein Bruder keinen einzigen Anfall mehr :-)))
    war es das, was Du wissen wolltest, Grace??

  12. Ganz herzlichen Dank für die „Geschichte“ bzw. den persönlichen Bericht über deine Geschwistersituation! Und Danke für den Mut, das zu schreiben!Plötzlich fühle ich mich nicht mehr so allein.Und angesichts des Alters seh ich auch, dass ich nicht allein bin. Hatte die irrrige Vorstellung, es würde/wede mit zunehmenden Alterleichter/gewohnter und einfach normal bzw. „normaler“ und mit zunehmender Kenntnis leichter zu händeln oder sich gar bessern oder auflösen. 🙂
    Dem ist nicht so, es ist so,und ich bin soooo froh, auch in meinem vorangeschrittenenen Alter diese Seite gefunden zu haben. Herzlichen Dank!

  13. Es ist jetzt 2025 und ich habe jetzt zum ersten Mal diese Seite gefunden. Am kommenden Montag werde ich das erste Mal zu einem „Geschwister-Stammtisch“ in meiner Stadt gehen, den ich über diese Seite gefunden habe.
    Ich bin 56 Jahre alt, habe eine sehr vergleichbare Situation, die Ursula hier beschrieben hat (einen zwei Jahre älteren Bruder, der lern- bis geistig behindert ist und ebenfalls epileptische Anfälle hat (und weder medikamentös anfallsfrei einstellbar noch operabel ist). Ganz ganz viel von dem, was hier geschrieben wurde – sowohl von Ursula als auch von den anderen, die hier kommentiert haben – deckt sich mit meinem Leben, mit meinen Lebenserfahrungen. Und ich stehe im Moment vor der Entscheidung, den Kontakt zu meinem Bruder und zu meiner Mutter, die noch lebt (86), komplett abzubrechen, was mir wie ein Verrat vorkommt und es macht mir ein extrem schlechtes Gewissen, aber ich selber befinde mich aktuell in einer eigenen depressiven Episode, die fast ausschließlich mit der Situation meines Bruders (und meiner Mutter) zu tun hat. (Dies ist die zweite große Depression in fünf Jahren, und das „Leben genießen“ oder „Lebensfreude spüren“ konnte ich eh noch nie in meinem ganzen Leben…).
    Da ich nicht mehr kann, obwohl ich 200 km weit weg wohne und ich nicht (!) die rechtliche Betreuung meines Bruders innehabe, sehe ich für mich keinen Ausweg, da ich es nicht schaffe, mich – vor allem emotional – abzugrenzen. Deshalb stehe ich kurz davor den „Tod“ meiner Ursprungsfamilie (den ich mir seit Jahrzehnten wünsche) „künstlich“ zu erzeugen, indem ich jetzt doch den Kontakt abbreche… was mir das Herz zerreißt, weil es mir ein dermaßen schlechtes Gewissen bereitet, dass ich es kaum aushalten kann zumal ich ein gläubiger Mensch bin, was dieses „Verratsgefühl“ einfach nur verstärkt. Aber so wie es im Moment (und eigentlich seit Jahren) ist, bin ich keine Hilfe für niemanden, und mit Kontakt zu den beiden komme ich nicht aus meiner Situation heraus! Und ich will meine eigene Familie (Frau und zwei erwachsene Töchter) nicht verlieren… Ich liebe meine Mutter, aber meinen Bruder…? Ich glaube tatsächlich, dass ich ihn nicht (mehr?) liebe … alles fühlt sich nur nach Pflicht an…
    Die Situation spitzt sich seit zwei Jahren dramatisch zu, seitdem er einfach auch psychisch krank und dauerhaft unterschwellig (aber teils auch offen und direkt), aber immer impulsunkontrolliert aggressiv ist, meine Mutter trägt aber alles weiter, und das kann ich nicht mehr…

    Danke für eure Geschichten und Kommentare, es tut gut zu wissen, dass man nicht alleine damit ist… euch allen viel Kraft und „gute“ Entscheidungen…

  14. Lieber Jan,
    Deine Worte haben mich grad tief berührt.
    Als erstes fiel mir bei Deinen Worten das christliche „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“ ein…. und dabei die entscheidende Frage, was bedeutet dieses „Wie Dich selbst“ in Deiner Situation genau jetzt?

    Diese vermutlich auch bei Dir frühkindliche Totalprägung auf „Du bist verantwortlich für Deine Familie“ sitzt offensichtlich auch bei Dir ganz tief in den Zellen und Deine Einschätzung, dass die Depressionen – wie bei mir ebenfalls- eine direkte Folge von diesem tief verankerten Pflicht-Glaubenssatz sind, ist mit Sicherheit richtig…
    Deine Absicht, Dich mit einer Gruppe zu treffen ist ein guter Schritt hin zu einer besseren Selbstfürsorge… Ohne Hilfe ist es kaum zu machen….
    Bevor ich jetzt weiterrede …..Lebt Dein Bruder (noch) bei Deiner Mutter ????
    Bei mir war eigentlich immer eher meine Mutter, die nicht loslassen konnte (und mir immer die Folgen aufdrücken wollte…) das Hauptproblem und gar nicht so sehr mein Bruder selbst…- wie sieht es da bei Dir aus?
    (Deine Worte haben mir gerade einen Schubs gegeben, endlich hier mal reinzuschreiben, wie die Situation heute ist… vielleicht auch hilfreich für Dich – ich habe es nie geschafft, mich dauerhaft zu lösen…und frage mich oft, wie mein Lebensweg ausgesehen hätte, wenn..)
    In jedem Fall wünsche ich Dir, dass irgendetwas Dir hilft, eine klare Entscheidung treffen zu können, die Lebensfreude in Deine Welt bringt:-)))))!!!
    Ursula

  15. Liebe Ursula,

    wow, dass du hier direkt antwortest, haut mich (positiv) um! Vielen lieben Dank dafür. Die Situation meines Bruders ist komplex und eigentlich – dafür schäme ich mich auch ein bisschen – bin ich viele Jahre „irgendwie“ entlastet gewesen (wahrscheinlich mehr als andere Geschwister in vergleichbaren Situationen), und ich sollte eigentlich genug Power in dieser Zeit „gesammelt“ haben, aber so funktioniert das dann doch nicht; denn tatsächlich war mein Bruder sogar ziemlich lange verheiratet. Seine Frau war „intellektuell sehr einfach strukturiert“, aber nicht lernbehindert, nur halt tatsächlich nicht so helle. Und sie war 12 Jahre älter als er, ist jetzt 70, hat ihn vor zwei Jahren verlassen und ist in ihre Heimat Südamerika zurückgekehrt. Sie hat es ihm einen Tag vor ihrer heimlich geplanten Ausreise erzählt, das war schon „link“… auch wenn ich ihren Entschluss gut verstanden habe; deren Ehe war definitiv „nicht einfach“ und sie hat auch viel – im wahrsten Sinn des Wortes – aushalten müssen (und dafür hat die Ehe über 25 Jahre gehalten (!) (meine Mutter und ich haben den beiden direkt nach deren Hochzeit maximal drei Monate gegeben). (Trotzdem brauchten die beiden in diesen 25 Jahren ständig Hilfe, alles war schwierig und kompliziert und man war immer in Alarmbereitschaft…).
    Meine Mutter ist zwar selber am Ende ihrer Kräfte, aber „richtig loslassen“, nein, das kann sie auch nicht. Allerdings ist das anders motiviert; sie wäre – wie ich – froh, wenn er nicht mehr „da“ wäre, aber es ist ihr gottgegebener Auftrag, sich zu kümmern und diesen Auftrag hatte sie seit meiner Geburt auch für mich genau so formuliert…

    Meine Mutter lebte noch bis letztes Jahr alleine in einer Eigentumswohnung, als aber mein Bruder zu ihr kam und sagte, dass er jetzt bei ihr einziehen würde, ist sie voller Panik in ein ServiceWohnen gegangen und mein Bruder ist dann in die 2-Zi-ETW meiner Mutter gezogen (und lebt da – mehr schlecht als recht – allein). Beide wohnen einen Kilometer voneinander entfernt. Und er macht ihr jeden Tag Vorwürfe, sie ist aber die einzige (verfügbare) Person und damit quasi sein einziger sozialer Kontakt, so dass er sie jeden Tag anruft und quasi immer bei ihr sein will, was meiner Mutter eigentlich zu viel ist… ABER: Sie setzt ihm keine Grenzen. Und er lässt alles bei und an ihr ihr ab (auch seine Aggressionen). Meine Mutter kann ihn zwar nicht loslassen, aber dieses „Nicht-Loslassen-Können“ lässt sich als: Meine Mutter „fügt sich“ definieren…
    Dieses „sich fügen“ ist seit 58 Jahren antrainert und internalisiert… insofern kommt sie nicht von ihm los. Die beiden haben ihre Rollen gut gelernt. Und sie zeigt ihm – wiederholt – auch jetzt im hohen Alter und in ihrer Gebrechlichkeit weiter keine Grenzen auf… hat selber PG 2, aber kocht für ihn, kommt nachts die Bettwäsche wechseln und das Blut aufwischen, wenn er einen Anfall hatte, aber kann sich selbst kaum bewegen…
    Im Grunde müsste sie die aktuelle Situation mit meinem Bruder „kontrolliert eskalieren“ lassen… aber das kann sie scheinbar nicht. Und ich kann das nicht weiter (er-)tragen…

    Mein Bruder selbst ist schon hochproblematisch; vor allem durch seine Aggressivität, seine Gewalt und seine psychische Erkrankung… aber alle Versuche, ihn auch pschiatrisch behandeln zu lassen in den letzten zwei Jahren sind gescheitert und meine Mutter hat sich entschieden, dann eben alles weiter so zu tragen und zu machen (und zu erdulden) wie bisher … und das (!) kann ich einfach nicht weiter mit und er-tragen… gerade auch im Hinblick darauf, dass sie nicht ewig leben wird und er dann nach ihrem Tod doch an mir hängenbleibt…

    Und deshalb eben meine Überlegung, mich aus Selbstschutzgründen jetzt „schon“ (oder „endlich“) komplett aus deren Leben zurückzuziehen… (eine rechtliche betreuung hat er ja, auch wenn sie leider schlecht ist…).

    Danke für deine direkte Rückmeldung, Ursula. Ich hoffe, dass es dir gut geht und du einen Weg gefunden hast, der jetzt für dich passt…
    Liebe Grüße,
    Jan

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