Die Entscheidung, meine geistig behinderte Schwester in ein Heim „zu stecken“ als sie um die 20 Jahre alt war, fiel meinen Eltern, die sich immer sehr um sie gekümmert haben, mit Sicherheit sehr schwer. Die Abkapselung von zu Hause ist schon bei „normalen“ Kindern sehr schwierig, umso mehr Sorgen und Vorbehalte waren damals bei der Entscheidung in unserer Familie vorhanden. Besonders meine Mutter konnte sich mit diesem Weg zu Anfang absolut nicht anfreunden.
Im ersten Moment erschien diese Entscheidung nicht nur für Außenstehende sondern auch für mich sehr fragwürdig. Zu Hause war sie doch wohlbehütet, sicher und gut versorgt! Im Laufe der Jahre verstand ich aber immer besser, dass diese Entscheidung für alle Familienmitglieder der einzig richtige Weg war. In erster Linie, war es langfristig für meine Schwester nur von Vorteil ein „eigenes Leben“ führen zu können, ohne die überbesorgten Familie, die durch ihre „Bemutterung“ ihre Entwicklung letztendlich negativ beeinflusst hätte.
Die Möglichkeit sich zu sozialisieren, Konflikte mit anderen zu erleben und zu bewältigen, und insbesondere auch einen geregelten Tagesablauf mit Sinn und Inhalt zu haben, sind wichtige Grundbausteine für alle Menschen. Letztendlich stellt es aber auch für die Familie eine nicht unerhebliche Entlastung dar, insbesondere im Hinblick auf die Frage, was sein würde, wenn meine Schwester keine Eltern oder Bruder mehr hätte. Hier kommt dem Wohnheim und seinen Betreuern eine besondere Rolle zu. Sie sind eine Art Ersatzfamilie, wenn auch nicht so perfekt wie die leibliche. Dies wird mir immer mehr bewusst, zumal meine Eltern langsam in das Alter kommen, wo sie selbst Hilfe benötigen. Würde meine Schwester in dieser Phase immer noch zu Hause leben, ohne weitere Sozialkontakte und eigenem Tagesablauf: es wäre für alle Beteiligten eine kaum zu bewältigende Belastung. Das Behindertenwohnheim meiner Schwester ist sehr modern und die Betreuerinnen und Betreuer alle sehr nett und herzlich, was den Umstand, das meine Schwester in einem Heim lebt, wesentlich erleichtert.
Leider ist die Gruppenkonstellation der Bewohnerinnen und Bewohner sehr heterogen. Neben mehrfach Schwerstbehinderten gibt Beeinträchtigungen in allen erdenklichen Abstufungen bis hin zu meiner Schwester, die in ihrer Wohngruppe noch die fitteste ist.
Dies führt zwangsweise oft zu einer Unterforderung meiner Schwester. Meine Eltern und ich versuchen das durch regelmäßige gemeinsame Wochenenden oder kleinen Aktivitäten während der Woche (wie z.B. Sport, der deutlich zu kurz kommt) zu kompensieren.
Eine homogene Wohnheimgruppe wird es wohl auch in Zukunft kaum geben, da gerade bei geistigen Behinderungen keine Standards gelten. Doch auch wenn es einige Nachteile gibt und nicht alle optimal ist, letztendlich überwiegen die Vorteile. Ich möchte Angehörige von Menschen mit Behinderung dazu ermutigen, sich langfristig Gedanken über diese schwierige Entscheidung zu machen.