Ein Bruder vor 1982 – einer seit 1983. Immer einer und doch zwei.

Warum schreibe ich heute über Thomas (und mich)? Ich glaube, es hat etwas mit Sichtbarkeit zu tun. Ich möchte, dass mein Bruder Thomas, und damit auch der Teil meines Lebens, der hinter einer Mauer des Vergessens liegt, gesehen werden kann.

Nicht mal mehr das Grab von ihm und meiner Mutter existiert noch. Immer weniger Menschen gibt es, die ihn kannten, und manchmal denke ich, ich werde verrückt, weil ich mit kaum jemandem diesen Teil meines Lebens teilen kann und sich das anfühlt, als habe es diese Zeit nie gegeben.

Ich bin die große Schwester, geboren 1971, und Thomas ist mein kleiner Bruder, geboren 1974. Dass mit ihm etwas anders ist, habe ich bestimmt gewusst, so wie ich meinen Vater kenne. Er hat immer alles erklärt. Gefreut haben wir uns alle, und ich mich ganz besonders, auf meinen kleinen Bruder.

Ein Geschwisterpärchen, dreieinhalb Jahre auseinander, der Traum aller Eltern in den siebziger Jahren und vielleicht auch noch heute.

Im März 1982 war der Traum vorbei. Da ist Thomas eines Nachts nicht mehr aufgewacht. Ich wurde zu einer Nachbarin gebracht (heute wünschte ich mir, ich hätte zuhause bleiben und mich verabschieden können), bis alles erledigt war (Arzt, Bestatter, etc). Irgendwann war die Beerdigung. Da war ich ganz neutral und konnte nicht weinen. Ich habe wegen Thomas´ Tod nichts empfunden, es war so surreal.

Und dann ging das alltägliche Leben weiter. Nur mit dem Unterschied, dass man von nun an zuhause die Luft schneiden konnte. Ich war einsam in jener Zeit. Sehr einsam.

Warum Thomas schwerst-mehrfachbehindert war, ein „Spastiker“, das erzählt das Familiennarrativ so:

Er sei gesund per Kaiserschnitt geboren worden. Aufgrund eines Wasserkopfes und einer Gelbsucht sei ihm ein Schand gelegt worden, und bei diesem Vorgang seien Cholibakterien in das Gehirn gelangt und haben es zu ¾ zerstört.

Kurz vor ihrem Tod 1993 habe meine Mutter in jenem Krankenhaus in Baden-Württemberg noch einmal angerufen und nach der damals behandelnden Ärztin gefragt. Daraufhin sei von der Dame am Telefon gesagt worden: „Da haben Sie aber Glück, dass Sie mich am Telefon haben“, die Ärztin sei (kurz nach der Geschichte mit Thomas) versetzt worden, weil da so viele Vorfälle mit Neugeborenen gewesen seien.

Das Krankenhaus verklagt haben meine Eltern nie, die Akten seien verschwunden, es habe keinen Thomas K. dort gegeben, und so hatten sich meine Eltern gegen einen aufwändigen Rechtsstreit entschieden.

So der Narrativ meiner Eltern, die leider mittlerweile ebenso wie Thomas nicht mehr leben. So gerne würde ich manches doch nochmal im Nachhinein klären, aber das geht nicht mehr.

Ich weiß, meine Eltern haben ihr Bestmögliches getan, mit dieser Situation klar zu kommen. Im Nachhinein erfahre ich immer noch die einen oder anderen Dinge von damals. So wussten die Nachbarn lange nicht, dass ich einen Bruder mit einer Behinderung habe. Ich glaube, da gab es ziemlich viel Scham.

Der Druck, der auf mir lastete, mich stets vorbildlich zu verhalten und gute Noten zu schreiben, war enorm. Wenn ich die Fotos von damals ansehe, sehe ich mich oft lachend oder lächelnd. Aber auch so manches Mal abgeschaltet und leer guckend.

Ich habe das Gefühl, es war schwierig für mich, dass meist mein Bruder auf Papas Schoß saß (es ging ja nicht anders, mein Bruder konnte sich nicht selbst halten), während ich daneben saß, die große, vernünftige Schwester, die doch so gerne auch öfter im Arm gehalten worden wäre und stattdessen oft selbst halten musste.

Eifersucht und negative Gefühle durften bzw. konnten nicht geäußert werden. Damals gab es keinen Raum dafür und keine Worte. Vielmehr habe ich gelernt, mich in solchen Situationen selbst „wegzuschalten“.

Als Thomas nicht mehr da war, versammelten sich all diese nie ausgesprochenen Schattengefühle zu einem einzigen großen Schuldgefühl.

Eineinhalb Jahre später wurde mein zweiter Bruder geboren. Ich war da schon 12 und fühlte mich eher wie seine Ersatzmutter. In meiner Erinnerung wurde auch ziemlich viel der Verantwortung auf mich abgewälzt und ich musste oft auf ihn aufpassen. Ich hatte ihn sehr lieb, aber ich war selbst in der Pubertät und hatte so langsam andere Interessen als auf kleine Brüder aufzupassen (Heute haben wir zum Glück ein tolles Verhältnis zueinander und ich bin sehr sehr froh darüber, dass er da ist).

Mit 18 hatte ich dann die Nase gestrichen voll von alldem und lief weg, zog in eine WG. Ich hatte so viel vom Leben nachzuholen, so war mein Gefühl, und eine unbändige Sehnsucht nach Menschen, die mir zuhören und für mich da sind.

Meinen Bruder Thomas hatte ich über die Jahre ganz lange „vergessen“. 11 Jahre nach seinem Tod folgte ihm unsere Mutter durch eine Myokarditis. Mein kleiner gesunder „neuer“ Bruder war damals erst 10.

Auf den Videos von damals bin ich mir selbst fremd und wirke immer noch auf gewisse Weise abgeschaltet. Erst über viele Jahrzehnte hinweg habe ich eine Struktur und ein Profil bekommen und gelernt, das Wort „Verantwortung“, das ich im Äußeren so oft hörte und mechanisch umsetzte, auch im Inneren zu spüren und zu leben.

Vor kurzem habe ich erfahren, dass der Klassenlehrer von damals meine Klasse über Thomas´ Tod informiert hatte. Dass viel über mich geredet wurde. Wenn ich mich zurück erinnere, dann hat mit mir damals niemand direkt über Thomas gesprochen. Ich aber auch nicht über ihn. Wenn ich damals nur gewusst hätte, wie sehr mich meine Mitschülerinnen und die Lehrer unterstützt haben. Im Nachhinein bin ich ihnen so dankbar!

Ich kann mich heute nicht aktiv an Thomas erinnern, außer vom Verstand her und über die Fotos.

Mein Vater hatte mal erzählt, dass er sich extra für Thomas den Schnurrbart hat stehen lassen, weil er auf die taktilen Reize reagiert und gelacht hat, wenn mein Vater, Thomas im Arm, ihn mit dem Schnurrbart kitzelte.

Aber ich weiß, in mir sind wie bei jedem Menschen alle Erinnerungen verkörpert, auch wenn sie nicht bewusst zugänglich sind. So schossen mir vor einigen Jahren völlig überraschend die Tränen in die Augen, als ich in einem Parkhaus einen schwerstmehrfachbehinderten Jungen in einem Rollstuhl getroffen habe.

Ich dachte dann, ich könne aufgrund meiner Geschichte gut mit Menschen mit Behinderung arbeiten. Nach dem Tod meines Vaters wechselte ich daher meinen Beruf und studierte soziale Arbeit. Ich habe jedoch durch Praktika und Ehrenamt festgestellt, dass ich nicht mit Menschen mit Behinderung arbeiten möchte. Ich war sehr verwundert, dass das so ist, habe es aber akzeptiert.

Ich arbeite nun in einem ganz anderen Bereich, wo ich auch am Rande manchmal mit Behinderung zu tun habe. Damit kann ich besser umgehen und profitiere vielleicht auch durch meine Erfahrungen.

Die Aufarbeitung meiner Geschichte und dessen, was ich dadurch erfahren habe, hat mich viel Energie gekostet, tut es immer noch.

Am schlimmsten ist es, dass die Erinnerung an Thomas nicht greifbar ist. Dass es kaum ein Gefühl gibt, das abrufbar und mit ihm verknüpft ist. Vielleicht ist das so, weil es so lange schon her ist.

Vielleicht aber auch, weil es so schwer war und heute noch ist, das Mit-Ihm UND das Ohne-Ihn zu begreifen und zu verarbeiten.

Ich hoffe, ich war ihm bei allen so übermächtig groß wirkenden Schattengefühlen (die wahrscheinlich gar nicht so groß waren, gemessen an dem Freundlichen, das ich auf den Bildern sehen kann) dennoch eine gute, einfach eine normale Schwester.

Nachtrag:

Heute habe ich meinem Therapeuten diesen Text vorgelesen. Was gestern beim Schreiben noch rational schien, war heute ganz anders. Plötzlich flossen beim Lesen Tränen. Für einen Moment lang konnte ich mich auch an Thomas´ Stimme erinnern, die Töne die er machte, wenn es ihm gut ging und er sich freute. Ich weiß jetzt wieder, dass Thomas oft mit Freude auf mich reagiert hat. Und plötzlich war da dank meines Therapeuten peu à peu Gefühl möglich, das durch die Mauer des Vergessens blitzen durfte. Feine Nuancen.

Da ist nun eine leise Ahnung, dass es möglicherweise dauern wird, das alles Schritt für Schritt zu spüren, was mein System noch verdrängt, weil es mich vielleicht sonst umhauen würde.

Anders als gestern habe ich jetzt ein wenig Vertrauen in mich und in Thomas, dass das in dem Tempo und mit der Unterstützung von statten gehen wird, die es braucht, damit es gut wird, und in den Therapeuten, der den Raum gehalten und mich mit seiner Präsenz unterstützt hat.

Zwangsläufig existenziell

Tagebucheintrag einer erwachsenen Schwester

5.5.21 

Es wird ganz konkret: keine Versorgung meiner Schwester zwischen 31. Mai und 31. JuLi. Zwei Monate in denen alles sein kann, und noch keine wirkliche Unterstützung in Sicht. 

Mamas chaotische Herangehensweise macht mich jetzt schon ganz wuschig, ich wittere Verantwortung: sie schwebt im luftleeren Raum und muss von irgendwem übernommen werden. Reflexartig greife ich nach ihr. Wie gut kann ich sie händeln? 

Praktisch bin ich da glaub ich ganz gut bzw. kann viel beitragen. Bei mir ist der Knackpunkt die emotionale Stabilität: Wie viel werde ich aushalten können? Ich nehme die Herausforderung an. Den alten Dämonen neu begegnen. Hab auch einfach Lust, mir ne gute Zeit mit meiner Schwester zu machen, sofern das eben geht. Hab überlegt: z.B. Ausflüge in die Stadt machen, sie zum Einkaufen mitnehmen, extra sichtbar werden. Ja wir sind da, es gibt uns. 

Hab so ne tiefe Wut und Ungerechtigkeitswahrnehmung in mir, möchte aktiv werden, z.B. bezüglich all der tollen Dokus die man so auf Youtube schauen kann: die kommen mir neben dem was die nächsten Monate passieren wird so banal vor. Macht doch mal mehr Dokus darüber, wie Familien mit schwermehrfach betroffenen Kindern so klarkommen. Wie Mütter (bestimmt auch Väter – in meiner Wahrnehmung bleibt es meistens an den Müttern hängen) sich abarbeiten in der Versorgungssituation, ausgebeutet von einem System, das sich auf ihre so ‚natürlich gegebene‘ Fürsorglichkeit verlässt. Und was ist in solchen Situationen eigentlich mit den anderen Kindern, hm? Und mit deren existenziell bedingter Aufopferungsbereitschaft? Die auch im Erwachsenenalter nicht unbedingt weggeht, so sehr man es auch versucht.

Eine lähmende Welle an Unverstandenheit überfällt mich, macht mich wütend und sprachlos. Erkläre ich es nicht deutlich genug was das für mich bedeutet? In eine Situation zurückzugehen, die mir ziemlich nachhaltig Schaden zugefügt hat…!?! 

Aber: was bleibt mir anderes übrig, wenn die Alternative ist: meine überforderte Mutter mit ihr alleinzulassen, die diese Pflege vor 5 Jahren als das Intensivpflegeteam übernahm eigentlich lange schon nicht mehr leisten konnte… ?!?! 

24h hoher Betreuungsaufwand. Es ist schwer geworden mit ihr: ihre Anfälle kaum händelbar, mit ihren 15 Jahren ist sie groß und schwer zu mobilisieren geworden. 

„Ach dann ist es doch absehbar und für die Zeit findet sich bestimmt auch eine Lösung“ antwortet meine Mitbewohnerin als ich ihr davon erzähle, ahnungslos, und meinem Gefühl nach ignorant gegenüber dem Schmerz und der Panik, die sich in mir ausbreiten und vermehren, seit die Situation in ihrer Ungewissheit so deutlich geworden ist. Niemand versteht das, der nicht in der gleichen Situation steckt.

Immer wieder mache ich diese mich von meinen engsten Menschen trennende Erfahrung. Niemand versteht dieses Ziehen, die Verantwortung, das eben nicht anders können, egal wie unabhängig und reflektiert ich mich mittlerweile wähne. Während „ihr“ euch unbedarft Gedanken darum macht, welche Schuhe oder welches Fahrrad ihr euch kauft, wie das Wetter nächste Woche wird und welche Serie ihr heute Abend schaut, ist die Situation für mich grad mal wieder: zwangsläufig existenziell. 

Fast empfinde ich Scham darüber, mich hier so breit zu machen mit meinem Leid, denn letztendlich geht es gar nicht um mich, sondern: um das Leben meiner Schwester, das an so viel Unterstützung geknüpft ist –  die aber nur funktionieren kann wenn wir, die Unterstützenden, funktionieren!