Sichtweisen

Am 1. Februar 2008 saß ich  in der Bremer Straßenbahn, auf dem Weg zu meinem ersten Seminar für Erwachsene Geschwister. Es hatte den Titel „Sichtweisen“. Ich war aufgeregt und neugierig und auch ein bisschen beunruhigt. Was ist, wenn ich mich dort nicht wohlfühle? Wie wird die Stimmung sein? Auf was habe ich mich da wohl eingelassen? Bis dahin kannte ich schon einige Erwachsene Geschwister,  habe mich mit ihnen über unsere Lebensgeschichten ausgetauscht. Aber wie ist das in einer Gruppe? Gibt es da verborgene Gespenster, die ans Licht wollen? Oder noch Schlimmeres? – Wird gejammert? Ja, das war meine größte Sorge – das Jammern. Vielleicht, weil es in diesem Rahmen endlich mal möglich ist? Und es Raum dafür gibt? Was passiert, wenn so viele Lebensgeschichten zusammenkommen? Mittlerweile weiß ich, dass ich nicht die einzige war, die solche Gedanken hatte

So schnell hatte ich mich einer Gruppe noch nie zugehörig gefühlt
Als ich im Seminarhaus ankam, wurde ich herzlich von Marlies Winkelheide empfangen. Die erste Hürde war genommen. Es fühlte sich gut an. Dann kam mein besonderes Erlebnis: Die Vorstellungsrunde. Ich glaube, so aufmerksam war mir in meinem Leben noch nie zugehört worden, und so aufmerksam hatte ich selbst nie anderen zugehört. Es gab eine unglaubliche Wertschätzung und ein großes Verständnis, das wir uns gegenseitig gegeben haben. So etwas hatte ich noch nie erlebt: kein Drumherum-Gerede, keine komischen Fragen oder Bemerkungen, einfach nur Verständnis und Annahme. So schnell hatte ich mich einer Gruppe noch nie zugehörig gefühlt, und ich fühlte mich reich beschenkt

Ich habe sieben Geschwister, davon sind sechs genau wie ich ohne Behinderung. Also gab es in meiner Familie sieben Geschwisterkinder. Von außen betrachtet, hatten wir alle die gleiche Lebens- und Leidenssituation. Wir waren im Alter von 7 bis 16 Jahren, als unser jüngster Bruder durch einen Autounfall behindert wurde. Wir haben alle sehr gelitten unter der Situation. Eine Frage beschäftigt mich seitdem: Wie kann es sein, dass man sich in so einer großen Familie mit seinen Gefühlen und Gedanken so allein fühlen kann? Natürlich gab es Gespräche, nicht mit den Eltern, aber unter uns Geschwistern. Doch, jeder hatte eine eigene Sichtweise und eine andere Auseinandersetzung, und somit endeten die Gespräche im Streit, weil jede/r meinte, die eigene Darstellung und Strategie wäre die Richtige.

Kein Grund zu jammern
Bremen 2008: Ich konnte es nicht glauben, da saß ich mit 45 Jahren in meinem ersten Seminar für Erwachsene Geschwister und fühlte mich zum ersten Mal in meinem Leben mit meiner Lebensgeschichte, was die Behinderung meines Bruders betrifft, gesehen und richtig wertgeschätzt. Und es ging das ganze Wochenende so weiter. Und es wurde nicht gejammert! Natürlich gab es nicht nur schöne Geschichten zu hören, doch es wurde kein einziges Mal gejammert. Es gab keinen Grund dafür. Jammern entsteht, wenn uns nicht zugehört wird, wenn wir nicht ernst genommen werden, wenn wir die Erwartungen anderer dazu erfüllen.

Das Seminar liegt jetzt mehr als neun Jahre zurück. Die ersten kleinen Anfänge, meine eigene Sichtweise zu ändern, hat damals begonnen, und es hat sich fortgesetzt. Ich habe danach endlich das Gespräch mit meinen Eltern gesucht. Ich habe insgesamt ehrlicher und offener über meine Vergangenheit gesprochen. Ich habe mich endlich mit diesem Teil meiner Geschichte versöhnt. Ich habe mich auf den Weg gemacht und gelernt, selbst Angebote für Geschwisterkinder aufzubauen.

Hilfsbereitschaft und Anteilnahme
Vor zwei Jahren entstand der Berliner Stammtisch für Erwachsene Geschwister. Dort habe ich schätzen gelernt, dass ich heute mit meinen vielen Geschwistern gut dran bin. Wir können uns die Hilfen, die unser Bruder braucht, aufteilen und wir können entscheiden, wer für eine Aufgabe am besten geeignet ist. Beim Stammtisch bin ich die Einzige, die so viele Geschwister hat. Ich habe viel Achtung davor, wie groß die Verantwortung der meisten anderen Erwachsenen Geschwister ist, weil sie in der Regel alleine sind. Die Hilfsbereitschaft und die Anteilnahme beim Stammtisch beeindrucken mich immer wieder. Neben intensiven Gesprächen über uns selbst, haben wir z.B. gemeinsam die Gedenkstätte für Euthanasieopfer besucht, und wir informieren uns gegenseitig über neue Regelungen, die unsere Geschwister betreffen. Und es gibt auch Spaß. Vor zwei Wochen war ich zum 68. Geburtstag eines Bruders mit Down Syndrom eingeladen. Es war ein großes Vergnügen. Ja, auch das muss vielleicht mal gesagt werden. Die meisten von uns fühlen sich gerade auf solchen Veranstaltungen richtig wohl und zuhause. Weil für uns Erwachsene Geschwister Behinderung doch was ganz Normales ist.

Gerburg und Michael

Manchmal gebe ich aus Neugierde Begriffe in die Suchmaschine ein, und so bin ich auf diese Internetseite gelangt. Ich habe mich riesig gefreut. Und ich freue mich auf das Geschwistermeeting im Oktober!

Gerburg und Michael

Gerburg und Michael. Bild: privat

Allein als Geschwister fühle ich mich nicht:

        • weil ich mit 6 meiner 7 Geschwister mein Schicksal teile
        • weil ich offen über meine Lebensgeschichte spreche, und andere dann auch offen werden
        • weil ich durch meinen sozialen Beruf immer wieder auf KollegInnen treffe, die auch behinderte Geschwister haben

Interessanterweise finde ich in Gesprächen mit „erwachsenen Geschwistern“ viel mehr Gemeinsamkeiten, als mit meinen eigenen Geschwistern. Das ist ein interessanter Aspekt, den ich gerne mal mit euch diskutieren würde.

Und es gibt noch viel mehr Fragen, die ich gerne mit anderen Geschwistern besprechen möchte.

Als ich 14 Jahre alt war, hatte mein jüngster Bruder einen schweren Autounfall. Er lag mehr als 2 Monate im Koma, und als er mit meiner Mutter nach 10 Monaten wieder nach Hause kam, war er behindert und auf fremde Hilfe angewiesen. Ich hatte gehofft, dass mit dem „nach Hause kommen“ alles wieder gut wäre, aber das war nicht so.

Weil ich die ganze Situation als sehr belastend empfunden und mich selbst als Belastung gesehen habe, bin ich mit 17 Jahren ausgezogen, vom Land in eine fremde Stadt. Dann kam das einsamste Jahr, das ich je erlebt habe. Danach wusste ich zwar nicht genau was ich wollte, aber genau, was ich nie wieder haben will.

In einem anderen Leben wäre ich Mathematikerin geworden.

In einem anderen Leben wäre ich Mathematikerin geworden. In diesem Leben habe ich mein Studium abgebrochen und bin Ergotherapeutin geworden. Das ging einher mit einer Krise, die manchmal schwer auszuhalten war. Aus meiner heutigen Sicht sehe ich sie als meine Rettung und große Bereicherung an.
Ich bin jetzt 51 Jahre alt und habe meine Entscheidung nie bereut. Natürlich merke ich, dass ich mich für besondere Familien besonders interessiere und einsetze. Aber warum denn nicht? Nur weil es manchen meiner Mitmenschen lästig ist? Weil sie lieber urteilen als mitzufühlen?

Ich erkenne behinderte Menschen sofort, und ich verweile kurz, um zu schauen, ob meine Hilfe gebraucht wird. Und ich finde das ganz selbstverständlich. Ich komme in meiner Arbeit im sozialen Bereich immer wieder an Aspekte meiner eigenen Geschichte. Ist das nun ein Vorteil? Oder ein Nachteil? Sicher etwas von Beidem!

Und ich musste lernen, mich nicht ausnutzen zu lassen und mich abzugrenzen.
Und ich musste lernen, nicht immer für andere mitzudenken, weil meine Antennen dafür feiner in diese Richtung gestellt sind, als bei vielen anderen Menschen.
Und ich musste lernen, auch mal als erstes an mich zu denken! Auch mal unbequem und anstrengend zu sein. Das sind einige meiner vielen persönlichen Lebensaufgaben, die mich sicher noch weiter begleiten werden.