Von „A“, wie Anfang – „Z“, wie „Zucken“: Kindheitserinnerungen & Ihre Folgen

Maike mit ihrem Bruder bevor er krank wurde

Ich war viereinhalb Jahre alt, es war Mai 1985, als ich nachts aufwachte, ins Elternschlafzimmer ging und meine Mama nicht in ihrem Bett lag. Mein Papa verriet mir, dass meine Mama im Krankenhaus ist und ich nun große Schwester eines kleinen Bruders geworden bin. Ich glaube ich freute mich, war glücklich und konnte es kaum erwarten meinen kleinen Bruder endlich kennen zu lernen. Ich glaube, ich war stolz darauf große Schwester zu sein. Ich sehe meinen kleinen Bruder noch nackig, einen Pamperskarton schiebend durch unser Kinderzimmer laufen und dabei auf den Boden pieseln. So traurig es klingt, aber das ist mit die einzige Erinnerung an meinen kleinen Bruder vor dem Tag , der alles verändern sollte…

Mein Bruder war zwei, ich fast sieben Jahre alt. Es war Sommer und mein Geburtstag war nicht mehr weit. Wir waren mit meiner Mama, ihren Kegelschwestern und deren Kinder in Holland in Urlaub. Zwei Wochen sollte er dauern. Doch eines Tages bekam mein Bruder plötzlich hohes Fieber. Abends, lag er in seinem Hochbett und bekam dieses „Zucken“. Meine Mama weinte – ich auch. Meine Mama lachte – ich auch. Meine Mama rannte die Treppen runter & wieder rauf – ich auch. Dann waren meine Mama und mein Bruder weg. Vom Rettungswagen abgeholt. Und ich – ich war leer. Alles, was ich von den restlichen paar Tagen in Holland noch weiß ist, dass mein Papa kam und er alle Hebel in Bewegung setzte meinen Bruder nach Deutschland zu transportieren. Meine Mama & ich wurden von einem Bekannten nach Hause gefahren. Das zu Hause, welches nun ganz anders sein sollte und an dessen Vergangenheit, vor dem traumatischen Ereignis, ich mich kaum erinnern kann!

Das kann unmöglich mein kleiner Bruder sein!
Die sechs Wochen Sommerferien verbrachte ich bei meiner Tante, meinem Onkel, meinem Cousin & meiner Cousine. Eigentlich war es ein schöner Sommer, denn ich liebte die Familie. Irgendwann durfte ich endlich meinen kleinen Bruder wiedersehen, allerdings nur durch eine Scheibe in der Intensivstation. Dieses Bild wird mich wohl noch ewig verfolgen, obwohl es gar nicht so real erschien. Es waren mehr Maschinen & Schläuche, als Kind! Das konnte unmöglich mein kleiner Bruder sein!!! Irgendwann kam mein kleiner Bruder auf Station, aber er war nicht mehr der Alte… Er hatte eine Hirnhautentzündung, die schon auf sein Gehirn übergegriffen hat. Er konnte zuerst nicht mehr sprechen und auch das Laufen musste er neu lernen, denn er war vorübergehend linksseitig gelähmt und hatte zwischen 30 & 60 epileptische Anfälle am Tag!!! Meinen Geburtstag haben wir im Krankenhaus „gefeiert“. Ich bekam einen knallroten Walkman und Kassetten von Regina Regenbogen. Die Einkäufe für meinen 1. Schultag erledigten wir nach dem täglichen Besuch im Krankenhaus.

Später, als mein Bruder wieder zu Hause war, wurde mir das ganze Ausmaß erst bewusst. Der Kinderwagen wurde wieder aktiviert, Therapien & Arzttermine häuften sich und damit auch meine Ansprüche an mich selbst: „Du musst funktionieren!“, „Du darfst nicht auch noch zur Last fallen!“
Ich glaube die erste Zeit hat mein Papa auch immer nur noch funktioniert! Wobei ich ihn damals das erste und fast einzige Mal habe weinen sehen! Mein starker Papa hat geweint… Meine Mama hat sehr viel geweint und im Laufe der Zeit einen Zwang entwickelt. Von außen gab es eher wenig Verständnis & Einfühlsamkeit. Meine Oma hat anfangs sogar meiner Mama die Schuld für die Erkrankung meines Bruders gegeben.

Das Schlimmste waren die Hänseleien
Nachdem mein Bruder wieder laufen & sprechen konnte, habe ich das Hüten meines Bruders übernommen. Ich habe ihn zum Kiga gebracht & abgeholt. Mit ihm alleine und auch mit Freunden gespielt… Das Schlimmste für mich waren die Hänseleien! Über meinen Bruder wurde gelacht, er wurde geärgert und sogenannte „Freunde“ von mir fragten einmal: „Wie sieht es denn aus wenn dein Bruder „zuckt“?, und bekamen sich nicht mehr ein vor lachen. Dieser Satz, diese Situation und der Schmerz, den er verursachte, spüre ich noch heute!!!

Als mein Bruder acht oder neun Jahre alt war, kam er in eine anthroposophische Wohngruppe, zwei Autostunden von uns entfernt. Damals dachte ich: „Jetzt wird zu Hause alles wieder gut und entspannt sich!“ Doch damit lag ich leider falsch. Ich weiß, ich habe mir oft gewünscht, dass meine Eltern mich in ein Internat gesteckt hätten, dann hätte ich bestimmt so viel Spaß gehabt wie Hanni & Nanni, oder nicht? Zudem hätten alle nicht so viel weinen müssen, wenn es mal wieder hieß: Abschied nehmen, denn ich wäre ja freiwillig gegangen!

Alles im Griff – wirklich?
Im Hier & Heute bin ich eine 36-jährige Frau, die natürlich einen sozialen Beruf gelernt hat ;-), bin verheiratet und habe drei Kinder. Die Außenwelt, habe ich festgestellt, sieht mich als selbstbewusste Frau, die alles im Griff hat. Doch habe ich das wirklich? Ich gebe zu, ich lasse mir nur ungern helfen, falle ungern zur „Last“, bin Klassenpflegschaftsvorsitzende, bin tätig im Verein,… ICH SCHAFFE DAS SCHON!!!…
Der Hammer kam vor ca. 6 Jahren. Angstzustände, Panikattacken, nichts geht mehr… Da war sie: „Die Bremse“! Eine Kur stand an. Viel Zeit, sich mit mir selbst zu beschäftigen, obwohl ich vorher schon ca. 2 Jahre lang psychologisch betreut wurde. Es hat mir wieder ein wenig zu mir selbst verholfen, aber da sind immer noch Ängste vor der Zukunft. Der Zeit, wenn unsere Eltern mal nicht mehr können oder gar nicht mehr da sind…

Mein Bruder und ich hatten immer ein sehr inniges Verhältnis, was aber seit ein paar Jahren etwas abgekühlt ist. Es ist schwierig zu beschreiben. Mein Bruder ist halt nicht „normal“, aber wirklich „behindert“ ist er auch nicht! Und ich bin überzeugt davon, dass mehr in ihm steckt als er zeigt, denn das hat er schon mehr als einmal bewiesen. Und da ist sie dann, aus Angst & Panik wird Wut. Diese Wut macht mir aber wiederum Angst und zusätzlich auch noch ein schlechtes Gewissen. Darf ich wütend sein? Was gibt mir das recht auf Wut??? Ich habe einen tollen Mann, wir haben drei wunderbare Kinder, mir/uns geht es gut…

Im Hier & Jetzt leben
An diesem Punkt stecke ich momentan ein wenig fest. Es wäre vielleicht an der Zeit mal mit meinem Bruder das Gespräch zu suchen, aber wie wird er reagieren? Verkraftet er das? Für meinen Kopf wünsche ich mir im Hier & Jetzt zu leben und nicht in der Zukunft und erst recht nicht in der Vergangenheit!
Ich werde weiter daran arbeiten und wünsche mir für die Zukunft einfach mehr Gelassenheit & Zuversicht!!!

2 thoughts on “Von „A“, wie Anfang – „Z“, wie „Zucken“: Kindheitserinnerungen & Ihre Folgen

  1. … deine gedanken und gefühle glaube ich gut nachvollziehen zu können.

    und ich wünsche dir und euch, dass ihr ein gutes gespräch und danach noch viele andere gute gespräche führen könnt.

    ich denke, es ist wichtig, nötig und für deinen bruder verkraftbar – du wirst schon nicht mit der brechstange rangehen, nehme ich mal so an ;-)!

    viel gelassenheit wünscht dir und euch
    ines

  2. Sie können einen Anfall bei einer anderen Person nur stoppen, wenn Sie medizinisch geschult sind. Dann würden Sie erwägen, unter bestimmten Bedingungen Medikamente zu verabreichen. Anfälle selbst sind selten gefährlich, obwohl sie ein Zeichen für einen schwerwiegenden Zustand sein können.

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