Ich bin 45 und meine geistig andersprogrammierte Schwester 2 Jahre jünger. Hab über Jahre (ups…schon fast Jahrzehnte) mit meinen Gedanken und Sorgen alleine vor mich hingelebt. Bruder einer geistig behinderten Schwester zu sein, bedeutet automatisch auch selbst anders zu sein: anders zu denken, anders zu fühlen und anders zu planen.
Aber neben der Situation, mit der Behinderung an sich konfrontiert zu sein, hat mich eine Sache im Laufe der Jahre immer mehr beschäftigt: meine eigene Position, verbunden mit meiner Gedanken- und Gefühlswelt, einzustufen und zu bewerten: Ist das was ich als normal empfinde denn wirklich so normal? Stehe ich vielleicht selbst zu weit im Hintergrund und erkenne meine eigenen Bedürfnisse nicht oder gebe ich vielleicht nicht alles oder ist das nicht gut genug? Viele Fragen, die man nur beantworten kann, wenn man Menschen in ähnlichen Situationen kennt. Aber ich kannte kaum Leute in vergleichbaren Situationen oder in meiner Altersgruppe. Selbst im Behindertenwohnheim meiner Schwester, traf ich ausschließlich auf Eltern – die Geschwister waren ein unbekanntes Phantom.
Viele Jahre habe ich das Internet für jede Frage genutzt. Aber eine meiner wichtigsten Lebensfragen habe ich als unlösbar in mir getragen. Eines Abends – meine Stimmung war mal wieder nicht gerade zum Feiern – habe ich angefangenen, nach Gleichgesinnten zu suchen. Es kann doch nicht sein, dass ich der Einzige auf diesem Planeten in solch einer Situation bin. Schnell fand ich heraus, dass es zahlreiche und gut organisierte Anlaufstellen zum Thema Geschwister behinderter Kinder gibt. Selbst wissenschaftliche Untersuchungen und zahlreiche Veröffentlichungen stehen zur Verfügung. Leider waren diese aber ausschließlich auf Kinder und Jugendliche ausgerichtet.
In einem Forum entdeckte ich dann den Beitrag einer Frau, welche mir mit ihren Worten aus dem Herzen sprach. Auch sie suchte erwachsene Menschen in vergleichbaren Situationen. Es war ein Gefühl, wie Leben auf dem Mars zu entdecken. Wow, doch nicht allein auf dem Planet mit so ner Situation! Ich habe direkt eine Antwort auf den anonymen Beitrag hinterlassen. Auch wenn keine direkte Antwort kam, es war der Stein der die weitere Geschichte ins Rollen brachte….
Ermutigt hierdurch, fand ich nach weiteren Recherchen endlich auch ein Angebot der Bildungs- und Erholungsstätte Langau e.V.. Hier gab es doch tatsächlich ein Seminar für erwachsene Geschwister behinderter Menschen. Auch wenn der Wunsch nach Austausch riesig war, ich hatte Angst auf vollkommen depressive Leute zu treffen, die sich in dem 3-tägigen Seminar nur gegenseitig ihr Leid vorjammern und mich letztendlich mit in eine Depression ziehen würden. Das brauchte ich echt nicht. Nach einem netten Telefonat mit der Seminarleiterin Sonja Richter, saß ich ein paar Tage später dann doch im Auto, auf dem Weg von Köln nach Langau in Bayern. Ich war zwar nach dem Telefonat motiviert aber nicht unbedingt überzeugt davon, dass mir das Seminar was bringen könnte. Um mich geistig auf das Bevorstehende einzustimmen, reiste ich schon ein Tag früher an. All meine Befürchtungen waren dann aber direkt beim ersten Kennenlernen der 5 anderen Teilnehmer/innen in Nullkommanix zerstört. Da waren auf einmal total normale Menschen in meiner Altersklasse, denen ebenso wie mir, nie jemand die besondere Lebenssituation angesehen hätte. Auch wenn wir bis tief in die Nacht hinein quatschen, lachten und grübelten, endlich hatte ich Menschen um mich herum, mit denen ich mich auch ohne Worte verstand. Ich musste nicht erklären wieso, weshalb und warum. Alle kannten die Situationen und Gefühle, welche wir als erwachsene Geschwister behinderter Menschen haben. Auch wenn das Seminar inhaltlich sehr interessant war, die Begegnung mit den anderen Teilnehmer/innen war für mich das Wichtigste. Einfach ein tolles Gefühl, welches ich nicht nur in 3 Tagen Seminar haben wollte.
Zwar blieb meine Resonanz auf den Beitrag der Unbekannten im Forum leider unbeantwortet, aber dafür meldete sich hierzu kurz nach meiner Rückkehr vom Seminar Sascha bei mir. Ein netter Typ in meinem Alter, in einer ähnlichen Situation und dann auch noch aus Köln wie ich. Wir brauchten nicht lange überlegen und saßen schneller bei einer Tasse Kaffee zusammen, als ich es noch vor ein paar Wochen für möglich gehalten hätte. Schnell war uns beiden klar, irgendwo da draußen rennen noch viele Gleichgesinnte rum, die sich bestimmt alle wie wir beide einfach über einen Austausch freuen würden. Die Idee der „Erwachsenen-Geschwister“ war geboren.