Heute möchte ich eine Geschichte erzählen. Eine Geschichte von einem Aufenthalt in einem Sanatorium in der Ukraine.
Marcel mit Professor und Team
Es muss so etwa 1994 gewesen sein. Da gab es diese komische Sendung Schreinemakers, die einmal die Woche einen ganzen Abend lang lief. Ich glaube – oder vielleicht hoffe ich das auch nur –, dass ich die Sendung selbst gar nicht geschaut habe. Aber diese Frau Schreinemakers hatte in ihrer Sendung Gäste. Und da war auch dieser Professor aus der Ukraine: Prof. Kozijavkin. Seine Spezialität war die Manuelle Therapie, eine Therapieform, die es ja eigentlich schon Jahrhunderte gibt. Dennoch war – und ist es vielleicht immer noch – seine Methode etwas besonderes. Besonders für uns war damals schon mal überhaupt, dass im Fernsehen ein solcher Arzt vorgestellt wurde, der sich ja eher auf eine Randgruppe der deutschen Fernsehzuschauerwelt spezialisiert hatte. Diese Methode wird nämlich z.B. bei Patienten mit infantiler Zerebralparese angewandt. Mein Bruder Marcel ist solch ein Patient.
Die Berichte waren so faszinierend, dass wir uns etwas näher damit beschäftigten. Eine Behandlung dauert knapp zwei Wochen und wird in einem Sanatorium in der Nähe von Liviv (Lemberg) angeboten. Die Kosten damals betrugen etwa 10.000 DM. Natürlich war unsere Krankenkasse nicht bereit, eine solche Behandlung zu bezahlen. Gleichwertige Angebote in Deutschland gab es damals aber auch nicht. Also hat die ganze Familie zusammengelegt. Besser gesagt, die Eltern opferten ihr Gespartes für die Silberhochzeitsreise nach Hawaii, damit wir dieses Experiment durchführen konnten. Wir, das waren Marcel, unsere Mutter und ich.
Landung um Mitternacht am Geisterflughafen von Liviv
Endlich war es dann soweit. Der Tag der Abreise war da. Eine große Chartermaschine stand am Frankfurter Flughafen für die Behandlungsgruppe bereit. Dabei war es schon sehr merkwürdig, in ein Flugzeug mit ca. 100 Behinderten oder Versehrten verschiedenen Alters zu steigen, um gemeinsam zu diesem „Wunderheiler“ zu fliegen. Das ganze Flugzeug war voll mit Patientinnen und Patienten und deren Begleitungen. Nicht unüblich für diese Jahreszeit – es war Anfang Dezember – schneite es und der Flug konnte erst mit vier Stunden Verspätung starten. Das bedeutete – wen wundert’s – auch eine verspätete Landung in Liviv. Es war nach Mitternacht und der Flughafen war eigentlich bereits geschlossen. Das Flugzeug konnte zwar landen, Personal oder Abfertigung gab es aber nicht mehr. Wir warteten also im Flugzeug, bis das Ukrainische Militär mit seinen riesig großen Mützen unsere Pässe kontrolliert hatte. Danach durften wir aussteigen. Drei oder vier Reisebusse standen für uns bereit, wobei diese Fahrzeuge in Deutschland sicherlich keinen Meter hätten fahren dürfen. Jetzt mussten wir erst einmal das Gepäck aus dem Flugzeug ausladen. Also wir selbst mussten das tun! Wir kletterten also in den Gepäckraum des Fliegers und holten die Rollstühle, Koffer und Taschen heraus, um sie in den Bussen zu verstauen. Das war schon nach nur einer Stunde in der Ukraine ein echt skurriles Erlebnis! Männer mit so großen Mützen wie im Comic und dann selbst das Flugzeug ausladen. Und es sollte skurril bleiben!
Wir wurden jetzt mit einer Polizeieskorte in einem Hochgeschwindigkeitstransport in das etwa 100 km entfernte Sanatorium nach Truskavetz überführt. Polizeimotorräder fuhren vor, um die Kreuzungen für die hinter Sirenen und Blaulicht heranrasenden Busse zu sperren. Waren die Busse vorbei, fuhren die Mopeds wieder hinterher, überholten und sperrten die nächste Kreuzung. Rote Ampeln? Spielten keine Rolle. Ich weiß nicht, wie heute die Straßen in dieser Gegend sind. Damals waren sie schlecht. Diese zweistündige Fahrt war damit eigentlich schon unsere erste manuelle Therapie in der Ukraine. Ich saß mit Marcel weit vorne und obwohl es so spät war, mussten wir viel grinsen, weil es so unwirklich war und weil das Geschaukel und Gehüpfe so unglaublich war.
Kakerlakenalarm
Irgendwann in der Nacht waren wir am Bestimmungsort und bekamen unsere Zimmer zugeteilt. Ich hatte ein Einzel-, meine Mutter und Marcel ein Doppelzimmer. Unsere Mutter war zutiefst geschockt von der Unterbringung. Es war halt einfach. Sehr einfach! Es war zum Heulen! Wir sollten später noch lernen, dass man mit doppelseitigem Klebeband, Kakerlaken davon abhalten kann, die Wände hoch zu laufen…
Noch geschockt von der Unterbringung, durften wir am kommenden Tag feststellen, dass auch die Verpflegung einfach war. Sehr einfach! Routinierte Besucher hatten sich Lebensmittel aus Deutschland mitgebracht, damit der Tag mit einer guten Nussnougat Creme beginnen konnte. Ich wusste auch gar nicht, dass man so vieles aus Kartoffeln und Kohl kochen kann. Ich erinnere mich an die Ravioli. Aus Kartoffelteig mit Kartoffelbrei als Füllung. Mmhh! Aber wir waren ja nicht auf einer Schlemmerreise!
Einrenken mit Lachgarantie und Bienenstichtherapie
Die Behandlungen waren wirklich außergewöhnlich. Die Idee dieser Methode ist ja, dass Blockaden in der Wirbelsäule gelöst werden, die zum Teil für falsche Bewegungsmuster verantwortlich sind. Wenn dann alle Blockaden gelöst sind, können neue Bewegungsmuster trainiert werden. Marcel hatte jeden Tag mehrere Behandlungen, an deren Ablauf ich mich im Detail nicht mehr erinnere. Die Hauptbehandlung war das tägliche Einrenken der Wirbelsäule durch den Professor persönlich. Das hat immer total laut geknackst, und Marcel musste dabei immer so herrlich lachen. Dann gab es auch eine Bienenstichtherapie. Da kam dann die Olga mit einem kleinen Minikäfig, mit ein paar Bienen, hat die mit einer Pinzette genommen und an ausgewählte Stellen – ich glaube am Arm – zustechen lassen. Weiter gab es Bienenwachs-Wadenwickel, Sport und Krankengymnastik. Jeden Tag, den ganzen Tag lang. Eine unglaublich anstrengende Prozedur, deren erstes Ziel, die alten Muster zu „brechen“, nach ein paar Tagen erreicht war. Marcel war dermaßen platt, dass er gar nicht mehr selbst vor uns stehen konnte, wie vorher, sondern sofort zusammengesackte. Das war aber Strategie! Ich habe mich übrigens auch einmal einrenken lassen. Zwar nicht vom großen Meister persönlich, sondern von seinem Vertreter. Aber ich muss sagen, es war großartig! Ich musste genau wie Marcel auch lachen und es hat die ganze Wirbelsäule hoch und runter geknackt. Nach dieser Behandlung bin ich den ganzen Tag auf „Wolke 7“ geschwebt. Und ich war so gelenkig, wie nie zuvor – und nie mehr danach.
Der Tagesablauf hatte uns zwar fest im Griff, dennoch waren die Umstände belastend und Möglichkeiten sehr eingeschränkt. Es gab zwar abends ab und zu etwas Unterhaltungsprogramm, aber so doll war das alles nicht. Auf einem Zimmer im Sanatorium hatte eine alte Frau ein kleines Geschäft eingerichtet, wo ich mir schon mal einen hoffentlich nicht zu sehr gepanschten Wodka kaufte. Täglich gab es Stromausfälle, obwohl Tschernobyl schon einige Jahre zurück lag. Wir hatten aber das Glück, nie in einem Aufzug stecken zu bleiben. Dieses Glück hatten nicht alle!
Am Fuße der Karpaten im Schnee
Truskavetz liegt am Fuße der Karpaten. Da war natürlich auch Winter. Also richtig viel Winter. Landschaftlich sehr schön! Und es war auch schön, dort durch den Schnee spazieren zu gehen. Dann aber hörten wir die Geschichten aus dem Vorjahr, in der eine Patientengruppe so arg eingeschneit wurde, dass der Rückflug nicht möglich war. Was für ein schrecklicher Gedanke! Wir hatten die Nase voll, trotz toller Behandlung sehnten wir uns sehr nach Zuhause. Die Gruppe aus dem Vorjahr war letztlich von einem Transportflugzeug des Roten Kreuzes abgeholt worden, die vermutlich auf Skiern in Liviv landen konnte. Dieses Abenteuer blieb uns glücklicherweise erspart!
Lahme konnten gehen
Irgendwann war die Zeit rum. Trotz Schnee konnte unser Charterflieger landen, und wir wurden aus dieser besonderen Umgebung herausgeholt. Für unsere Mutter kam es einer Befreiung gleich. In Frankfurt konnten tatsächlich mehr Leute zu Fuß das Flugzeug verlassen, als beim Start zwei Wochen zuvor. Der Wunderheiler hatte es also geschafft: Lahme konnten gehen – naja Blinde waren keine da, sonst könnten die jetzt wohl sehen.
Und was hat uns diese Reise jetzt eigentlich gebracht? Also mir ein sehr skurriles Erlebnis, von dem ich hier erzählen kann und an das ich eigentlich eher positiv zurückdenke. Unserer Mutter, ein fast traumatisches Erlebnis, was Lebensumstände und Unterbringung angeht. Sie ekelt sich noch heute, wenn sie an die 6-beinigen Mitbewohner von damals denkt. Meinem Bruder Marcel ein erst einmal sehr gutes Gefühl, intensiv an sich gearbeitet zu haben. Zunächst auch Verbesserungen in seinen Bewegungen. Leider war das nicht von allzu langer Dauer, weil so eine einzelne Behandlung bei weitem nicht ausreicht. Nicht umsonst gibt die Klinik heute Rabatte für den 10., 20. und 25. Aufenthalt. Aber wer kann sich das schon leisten? Die Krankenkassen wohl nicht!
Hier noch ein paar Links zu der Methode und dem Sanatorium. Schon als wir dort waren, hatte der Professor uns den Neubau gezeigt, der für dortige Verhältnisse Luxus versprach. Ich denke, dass man heute dort eine gute Unterbringung vorfindet.